Artikel aus dem Berliner Tagesspiegel vom 30.01.2010 zum aktuellen Skandal
um den Missbrauch von Kindern im Berliner Canisius-Kolleg:
Auch außerhalb
der katholischen Kirche und außerhalb von Schulen werden Kinder sexuell missbraucht.
Aus Sicht der Opfer sind solche Unterscheidungen oft zweitrangig. Bloße Worte
der Entschuldigung, selbst aufrichtige und großzügige Entschädigungsgesten sind
zu wenig.
Ein christlicher Geistlicher widmet sein Leben dem Auftrag,
das Evangelium in Wort und Tat zu verkündigen. Ein Lehrer übernimmt an Eltern
statt die Fürsorgepflicht gegenüber Kindern und Jugendlichen. Daher sind die
Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg, begangen von Ordensbrüdern, die
als Pädagogen arbeiteten, doppelt verwerflich. Die mutmaßlichen Täter haben
eklatant gegen die christliche Lehre verstoßen, und sie haben ihre Verantwortung
für die Schutzbefohlenen in ein brutales Herrschaftsinstrument über diese Schutzbefohlenen
verwandelt. Die Welt steht kopf, wenn solche Verbrechen begangen werden.
Das
Böse, das sich im Gewand des besonders Guten tarnt, bedroht die Grundordnung
jeder Gemeinschaft. Es stimmt: Auch außerhalb der katholischen Kirche und außerhalb
von Schulen werden Kinder sexuell missbraucht. Aus Sicht der Opfer sind solche
Unterscheidungen oft zweitrangig. Und über die Frage, ob nun Katholizismus,
Zölibat, rigide Sexualmoral und die Tradition des Beichtgeheimnisses ein in
sich geschlossenes System hervorbringen, das derartige Verbrechen begünstigt
oder deren nachträgliche Aufarbeitung erschwert, lässt sich ebenso lange wie
zumeist erfolglos spekulieren. Das alles indes mindert nicht die Wucht der Erschütterung.
Geistliche, die als Lehrer Kinder missbrauchen: Das gleicht Krankenschwestern,
die Zyankalikapseln verabreichen, Feuerwehrmännern, die Brände stiften, Rettungsschwimmern,
die Ertrinkende ertränken. Es ist die Verhöhnung jeder Idealität und Moralität.
Es ist die Austreibung von Glaube und Vertrauen.
Wo derartiges Unrecht
geschieht, hört die von jeder Religionsgemeinschaft praktizierte "geschwisterliche
Gemeinschaft unter dem Wort" auf. Mögliche Gesetzesbrüche durch Sexualstraftäter
können auch anonym zur Anzeige gebracht werden. Die Pflicht zur lückenlosen,
ja radikalen Aufklärung ist allerdings in erster Linie den Opfern geschuldet.
Ohne Anerkennung der Wahrheit können seelische Wunden nicht heilen, wenn sie
es denn jemals können. Bloße Worte der Entschuldigung, selbst aufrichtige und
großzügige Entschädigungsgesten sind zu wenig. Auch verjährte Missetaten kennen
einen Täter, dem Gesicht und Name gegeben werden muss, damit aus dem amorphen
Erinnerungsdunkel ein identifizierbares Gegenüber wird, zu dem Distanz aufgebaut
werden kann.
Die Pflicht zur Aufklärung gründet sich außerdem auf die
Einsicht, dass nur durch sie der Schaden begrenzt werden kann und der Ruf der
Schule nicht dauerhaft lädiert wird. Natürlich prasseln jetzt - wie sollte es
im säkularen Berlin anders sein? - auch antireligiöse, antichristliche und antikatholische
Ressentiments auf die Beteiligten nieder. Solche Vorhaltungen müssen ausgehalten
werden, aber nicht durch Einigelung, sondern durch Geduld und Gelassenheit.
Den verfolgend schuldig Gewordenen ist die Rolle der verfolgten Unschuld verwehrt.
Wem weiter an der Verkündigung des Wortes liegt, darf die Verräter an diesem
Wort weder schonen noch schützen.
Denn sie haben sich nicht allein an
Kindern vergangen, sondern sind auch schuld daran, dass Glaube und Kirche heute
weniger stark von außen bedroht sind - Kopernikus, Darwin, Freud - als durch
die sittliche Erosion religiöser Repräsentanten. Petrus Canisius, der erste
deutsche Jesuit, wäre wohl der Erste gewesen, der das gegeißelt hätte. Denjenigen,
die sein Erbe verwalten, muss das Maßstab und Richtschnur sein.
Atheistische Nachbemerkung: Dass es gerade der katholischen Kirche
immer wieder "passiert", dass Kleriker und Funktionäre aus ihren
Reihen als Kinderschänder auftreten, hat klarerweise einen innerkirchlichen Grund:
Die menschliche Sexualität lässt sich nicht wegstecken oder - wie man in
Österreich sagt - "außischwitzn". Zölibat und Verdammung der Sexualität
führte und führt eben dazu, dass sich Menschen mit entsprechenden Defekten unter
dem Dach der katholischen Kirche leichter versammeln als in anderen Institutionen. Katholische Kinderschänder
sind Produkte des katholischen Systems!
PS: Die Heuchler und Pharisäer
im Jesuitenorden und im Vatikan sollen seit 1991 über die Vorfälle informiert
gewesen sein.