Global Prayers - Rückkehr der Religion?

Anlässlich einer Buchvorstellung in Berlin über neue Erscheinungen des Religiösen und das Verhältnis von Spiritualität, Politik und Alltag in den Metropolen wurde in Deutschland in einschlägigen (d.h. religiösen) Medien hoffnungsfroh darüber berichtet, dass die Säkularisierung vielleicht doch nur ein überschätztes und vorübergehendes Phänomen sein könnte und auch in den Großstädten neue religiöse Bewegungen entstehen würden. Unter dem Schlagwort "Global Prayers" (globale Beter) läuft sogar ein Forschungsprojekt. Dazu sollen auf globaler Ebene in acht Städten, nämlich in Lagos, Rio de Janeiro, Mumbai, Istanbul, Beirut, Miami, London und Berlin, Strukturen, Praktiken, Territorialisierungen und transregionale Vernetzungen neuer urbaner Glaubensgemeinschaften analysiert werden. Die Forschungsfelder umfassen dabei Ethnologie, geographische und sozialwissenschaftliche Stadtforschung, Politikwissenschaften, soziale Bewegungsforschung, Islamwissenschaften und vergleichende Religionswissenschaften. Im Februar 2012 sollen erste Ergebnisse bekanntgegeben werden.

Was man jetzt schon lesen konnte: Die Hoffnungen der Aufbruchszeit im Anschluss an die Nachkriegszeit seien oft nicht erfüllt worden, die Arbeiterbewegung habe ihre Bedeutung verloren, Verarmung und Vereinsamung vermehre die Nachfrage nach alternativen Formen des Protestes und der Zugehörigkeit. Besonders in den Ländern der Dritten Welt bieten religiöse Gruppen nicht nur Gemeinschaft und Hoffnung auf ein Heil im Diesseits und im Jenseits, sondern auch karikative Dienste.

Wozu sich vermuten lässt, dass es kein "globales Phänomen" sein kann, sondern ein weltweit verbreitetes Phänomen, das in verschiedenen Bereichen indirekter Gewinner aus den Folgen des vorläufigen weltweiten Endsieges des neoliberalen Kapitalismus ist.
Die Ausbeutung nimmt zu, die Menschenfeindlichkeit des Casinokapitalismus ist systemimmanent. Die überall erfolgte Umverteilung des Volksvermögens von unten nach oben, ohne dass bis heute bedeutender Widerstand dagegen erkennbar ist, öffnete eine neue Nische für neue religiöse Ideologien, das "Opium des Volkes" könnte partiell wieder mehr Nachfrage finden. In Südamerika hat diese Entwicklung allerdings inzwischen bereits Konkurrenz erhalten, in immer mehr Ländern etabliert sich eine neue Linke, die sich um "ein Heil im Diesseits" bemüht. Was klarerweise nicht von heute auf morgen geht und wohl auch nicht überall funktioniert. Die islamische Version der "Global Prayer" konnte in speziellen Fällen durch ihren kämpferischen Extremismus ebenfalls gemeinschaftsbildende, hoffnunggebende, heilsversprechende Wirkungen erzielen.

In den entwickelten Ländern spielt sich diese Entwicklung höchstens marginal ab. Zwar hat nach dem Ende der sowjetischen Systemkonkurrenz auch in diesen Ländern die Zerschlagung der sozialen Marktwirtschaft für die breite Masse der arbeitenden Menschen wesentliche Verschlechterungen gebracht. Was jedoch häufig nicht unmittelbar wahrnehmbar war. Weil die Verbesserung der Lebensbedingungen durch die wissenschaftlich-technische Entwicklung die Verschlechterung in der Verteilungssphäre überdecken konnte. Dass die Zunahme des Einkommens in den letzten zwanzig Jahren völlig überproportional fast nur noch auf Seiten des Kapitals stattfand, die Lohnquote in den entwickelten Ländern - trotz der ständigen Vermehrung von unselbstständig Erwerbstätigen - ständig nach unten fällt, die Arbeitsbelastung ebenso ständig erhöht wird, rief keine unmittelbaren Reaktionen hervor. Dass jetzt im Oktober 2011 in Österreich erstmals nach 25 Jahren wieder ein Streikkampf geführt wird, zeigt jedoch, dass die Verschärfung der Ausbeutung sogar bei einer lahmen Organisation wie dem ÖGB irgendwann ein Echo hervorrufen muss.
Nachträgliche Anmerkung: der ÖGB blieb weiterhin eine lahme Ente, die geäußerte Lohnforderung von 5.5 % durchzusetzen, wurde gar nicht wirklich versucht, man kapitulierte bei 4,2 % und ein paar Brosamen bei den unteren Lohnstufen, bei einem Lohn von über 2000 Euro bringen 4,2 % brutto wie gewohnt auch dieses Jahr wieder einen Reallohnverlust.

Um bei diesem Beispiel zu bleiben: Trotzdem werden in Österreich nicht viele Leute auf die Idee kommen, ihre Ängste, Beschwernisse, Kümmernisse könnten und müssten durch Hinwendung zu einer religiösen Gemeinschaft behandelt werden. Eine dieser neuen religiösen Bewegungen ist die "Jesus Revolution Army", durch die Medien zog vor einiger Zeit die Meldung, die aus Norwegen stammenden Jesusrevoluzzer hätten in Graz Fuß gefasst. Ein Blick ins Internet belehrt eines Besseren: die neueste Eintragung darüber ist von 2005. Auch sonst ist nirgendwo was wirklich Wahrnehmbares. In OÖ gibt es z.B. knapp 50 evangelikale Gemeinden (Baptisten, Mennoiten, Volksmission u.a.), die sind jedoch alles Kleingruppen mit maximal einigen Dutzend Mitgliedern, insgesamt liegen sie sicherlich deutlich unter der Zahl der Zeugen Jehovas und die sind mit ihren 20.000 Mitgliedern österreichweit ja auch nicht gerade eine große Volksbewegung.

In Europa wird der längst gut verwurzelte Säkularismus von den "Global Prayers" nicht beeinträchtigt werden. Maximal bilden sich in den islamischen Parallelwelten solche Gruppen, in denen dann die im säkularen Europa an der traditionellen islamischen Bildungsferne Gescheiterten ihr Heil suchen könnten. Religiöse Kleingruppen wird es immer geben, aber ein Ausbruch einer neuen urbanen Religiosität in Großgruppen von Pfingstlern und Evangelikalen brauchen wir nicht zu befürchten.


Neu bekehrte Evangelikale würden außerdem kaum aus religionsfernen säkularen Bevölkerungskreisen kommen, sondern viel eher aus Kreisen aktiver Gläubiger der christlichen Großkirchen. Dass die katholische Kirche in diese Richtung Befürchtungen hegt, ergab sich aus Äußerungen von Ratzinger in Deutschland und speziell auch von Kardinal Schönborn (siehe Info Nr. 625).