Vorschnell und einseitig wurde der Sturz der säkular-despotischen Autokratien
in Tunesien und Ägypten als unaufhaltsamer Aufbruch zu demokratischen Ufern
stilisiert. Nunmehr zeigen der klare Wahlsieg der Islamisten in Tunesien sowie
der sofortige Ruf nach Wiedereinführung der Scharia und der Polygamie in Libyen
einmal mehr, dass die antiislamkritischen Medienvertreter und "Nahostexperten"
erneut Opfer ihres voreingenommenen Wunschdenkens geworden sind. An die Stelle
der euphorischen Verzerrung der arabischen Umbruchprozesse und des Herunterspielens
der Islamisten zu marginalen und/oder geläuterten Mitläufern des Transformationsprozesses
ist nunmehr die Verharmlosung der islamistischen Wahlsieger und libyschen Reislamisierer
zur ultima ratio des Zurückruderns geworden.
Tatsächlich aber war
es von vornherein bestenfalls völlig offen, ob es wirklich zu einer echten Demokratisierung
und kulturellen Modernisierung im arabisch-islamischen Herrschaftsraum kommt
oder aber nicht doch die Gefahr einer islamistischen Umstrukturierung der niedergegangenen
autokratischen Systeme Realität wird. Um einen fortschrittlichen Umwälzungsprozess
gegenüber konterrevolutionären und reaktionären Kräften und Trittbrettfahrern
abzusichern, bedarf es nun mal durchsetzungsfähiger "jakobinischer"
Akteure, die mehr zu bieten haben als Idealismus und Facebook. Dementsprechend
war Skepsis angebracht, ob die sympathischen und auf jeden Fall unterstützenswerten
Facebook-Aktivisten der ersten Stunden über genügend "quantitativen"
Einfluss, politische Reife, programmatische und organisatorische Qualität verfügen,
um als durchsetzungsfähige und bestimmende Kraft des weiteren Umgestaltungsprozesses
agieren zu können und die islamistische Reaktion in Schach zu halten (anstatt
von ihr gekapert zu werden).
Schon das Beispiel des im Endeffekt islamistischen
Umsturzes im Iran 1979 enthielt das folgende Lehrstück: War der Sturz des
säkularen Schah-Regimes zum einen das Produkt einer sozial übergreifenden, unterschiedliche
Bevölkerungsschichten umfassenden Volkserhebung, so war er andererseits gleichzeitig
mit einem unaufhebbaren objektiven Gegensatz zwischen den interessenpolitisch
unterschiedlichen Grundströmungen des Aufstands verbunden: Während die linken
säkularen Gruppen sowie die bürgerlich-nationalistischen Kräfte auf jeweils
spezifische (und durchaus ebenfalls zueinander widersprüchliche) Art eine Demokratisierung
und Modernisierung der Gesellschaft anstrebten, ging es der islamistisch-khomeinistischen
Richtung um die perfekte Restauration einer gesamtgesellschaftlichen Hegemonie
des Islam als allumfassendes Ordnungskonzept. Schlussendlich verfügte das islamistische
Lager aufgrund einer tiefergehenden kulturhistorischen Verankerung traditionell-islamischer
Einstellungen und Habitusformen über eine viel breitere Mobilisierungsbasis
und Gefolgschaftstreue innerhalb der Bevölkerung als das säkulare linke und
bürgerliche Lager. Und so bildete die repressiv-terroristische Ausschaltung
der zunächst ausgenutzten säkularen Oppositionskräfte die unabdingbare Voraussetzung
für die Ersetzung der Schah-Diktatur durch die totalitäre Gottesdiktatur der
schiitisch-islamischen Religionsgelehrten. Es bleibt zu hoffen, dass dieser
fatale Coup alsbald auf revolutionärem Wege korrigiert wird.
Die deutsche
Gesellschaft verleiht zwar manchmal Preise an die richtigen Leute. Wohl aber
eher aus unbewusst schlechtem Gewissen als aus ehrlich überzeugter Lern- und
Korrekturbereitschaft. So hat Boualem Sansal, Träger des diesjährigen Friedenspreises
des Deutschen Buchhandels, in einem Interview mit der Neuen Züricher Zeitung
Folgendes sehr zutreffend festgestellt und sich damit gegen den Geist der deutschen
Mainstreammedien und staatsnahen Auftragswissenschaft gestellt:
"Der
arabische Frühling hat noch gar nicht begonnen. Das wahre Gefängnis ist nicht
die Diktatur. Die Diktatur ist nur die erste Mauer, aber dahinter befindet sich
das echte Gefängnis, sozusagen der Hochsicherheitstrakt, das sind die Kultur
und die Frage des Islam. (…) Es wird interessant, wenn in Libyen oder Tunesien
oder Ägypten gewählt wird. Wenn die Islamisten gewinnen, werden sie wieder eine
Diktatur errichten, sei es eine sanfte Diktatur wie in der Türkei, sei es eine
Diktatur wie im Iran."
Dass ausgerechnet in Tunesien, dem Land
mit der noch am wenigsten rückständigen soziokulturellen Konstitution im islamischen
Vorherrschaftsgebiet, die islamistische Ennahda-Partei mit 41,47% Stimmen die
Wahlen haushoch gewonnen hat, zeigt, wie eingeschränkt die endogenen Fortschrittspotenziale
und Erneuerungsressourcen in diesem Kulturraum zunächst noch sind. Dieser Tatbestand
ist aber nicht dem unveränderlichen Wesen der dort lebenden Menschen anzulasten,
sondern der übermächtigen und sie unterwerfenden islamischen Herrschaftskultur,
die durch die säkularen Despotien zwar gedeckelt, aber nicht nachhaltig aufgebrochen
wurde. Insofern kann man auch die - freilich sehr zersplitterten - 58,53% der
Wähler als Hoffnungsschimmer sehen, die nicht die Islamisten gewählt haben.
Die Frage ist nun, ob sich diese zahlenmäßige Mehrheit als antiislamistische
Front formiert.
Der nun massiv einsetzende Versuch, die errungene
Vorherrschaft der Islamisten mit Verweis auf deren angeblich moderaten Charakter
klein zu reden, verfängt nicht: Wie unzutreffend es ist, von einem erklärten
Übergang zu einer Legalitätsstrategie auf einen moderaten Charakter zu schließen,
verdeutlicht zum Beispiel ein vom Think Tank Quilliam verfasster Geheimbericht,
der eigentlich nur für das britische Office for Security and Counter Terrorism
(OSCT) bestimmt war, dann aber doch über das Internet an die Öffentlichkeit
gelangte. Darin wird festgestellt, dass die Ideologie nicht gewalttätiger
Islamisten im Wesentlichen die gleiche ist wie die Ideologie gewaltbereiter
islamistischer Gruppen. Die Unterschiede beträfen nur die taktischen Auffassungen.
Demnach existieren zahlreiche islamische Gruppierungen, die zwar auf unmittelbare
Gewaltausübung verzichten, jedoch in ihrer Zielsetzung, einen islamischen Gottesstaat
zu errichten, mit gewaltbereiten und -ausübenden Gruppen vollständig übereinstimmen.
Auf
der anderen Seite steht die Behauptung vom moderaten Charakter der tunesischen
Islamisten auf sehr wackligen Beinen. Davon zeugen zum Beispiel die gewalttätigen
Ausschreitungen anlässlich der Ausstrahlung des Filmes "Persepolis",
der von der iranischen Umwälzung 1979 handelt und in dem Allah als bärtiger
Mann dargestellt wird. Unter Anderem zogen 100 mit Gasflaschen, Messern und
Molotowcocktails bewaffnete Islamisten, wie die FAZ (25.10. 2011, S. 3) berichtete,
vor das Haus des Leiters des Senders "Nessam TV", der für die Ausstrahlung
des Films verantwortlich war. "Glücklicher weise habe seine Familie das
Haus ein halbe Stunde zuvor verlassen", erklärte der Sendeleiter Nabil
Karoui, der selbst nicht am Ort des Geschehens war (ebenda).
Aufschlussreich
war die darauf folgende arbeitsteilig-taktische Antwort des Islamistenführers
Raschid Ghannouchi: Zwar verurteilte er verbal den nicht friedlichen Charakter
der Proteste, bezeichnete aber gleichzeitig die hinter den Ausschreitungen stehenden
Salafisten als Brüder und mahnte mit Bezug auf die von den Brüdern aufgebaute
Drohkulisse, dass die religiösen Gefühle der Mehrheit nicht verletzt werden
sollten.
So sehen die vorläufigen Sieger des arabischen Frühlings
aus!