Im deutschen Bundestag gab es lediglich eine 45-Minuten-Debatte zur Absicht
die Beschneidung gesetzlich zu regeln, CSU, CDU, SPD und die Grünen stimmten
diesen Plänen zu, lediglich die Linkspartei lehnte ab. Bei so wenig vernünftigem
Bemühen zu dieser heiklen Frage hier die Wortmeldung des Linkspartei-Abgeordneten
Petermann am 19.7.2012 in dieser Debatte:
(bisher
war hier ein Tonmitschnitt, dieser wurde nun durch den YouTube-Clip ersetzt)
So einfach
wie sich die deutschen Bundestagsparteien außer der Linkspartei die Sache machen
wollen, ist sie nicht, daher hier die Meinung von Professor Dr. med. Matthias
Franz, Universität Düsseldorf:
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte Bundesminister, sehr geehrte
Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
Sie werden in den kommenden Wochen intensiv über eine gesetzliche Regelung
zur Beschneidung von Jungen diskutieren. Diese Debatte hat in der Öffentlichkeit
schon begonnen. Sie wird jedoch zunehmend von unwissenschaftlichen Momenten
bestimmt. Es wird gefordert, jetzt schnell Rechtssicherheit herzustellen. Doch
dieses wichtige Thema darf nicht eilfertig entsorgt werden. Wir setzen uns ein
für eine Versachlichung der Diskussion. Kernpunkt ist die Abwägung der Grundrechte
auf Religionsfreiheit von Erwachsenen mit dem Recht des Kindes auf körperliche
Unversehrtheit und sexuelle Selbstbestimmung sowie die Achtung seiner Würde.
In diesem Zusammenhang kann die Religionsfreiheit kein Freibrief zur Anwendung
von (sexueller) Gewalt gegenüber nicht einwilligungsfähigen Jungen sein. Dies
ist für die Zufügung jeglicher Gewalt im Genitalbereich von Mädchen national
und international schon lange Konsens. Hinsichtlich der Durchführung medizinisch
nicht notwendiger irreversibler Genitalbeschneidungen von Jungen, verbunden
mit hohem Risiko für bleibende genitale Beschädigungen und seelische und sexuelle
Beeinträchtigungen, muss die öffentliche Debatte und Wahrnehmung offensichtlich
noch weiterentwickelt werden.
Zusammenfassend kann man aus ärztlicher Sicht eindeutig sagen, dass es keine
medizinischen Gründe für die Entfernung einer gesunden Vorhaut bei einem gesunden,
nicht einwilligungsfähigen kleinen Jungen gibt. Sämtliche angeführten medizinisch-prophylaktischen
Gründe (zum Beispiel Prävention sexuell übertragbarer Infektionen) lassen sich
- wenn vom Betroffenen gewünscht - durch eine Beschneidung in einwilligungsfähigem
Alter realisieren. Die Beschneidung ist auch nicht etwa mit dem Eingriff einer
Impfung gleichzusetzen, da es bei einer Impfung um die dem Kind direkt zu Gute
kommende Minderung von Gesundheitsrisiken geht.
Es herrscht eine bemerkenswerte Verleugnungshaltung und Empathieverweigerung
gegenüber den kleinen Jungen, denen durch die genitale Beschneidung erhebliches
Leid zugefügt wird. Dieses Leid ist mittlerweile in empirischen Studien ausreichend
belegt. Mit religiösen Traditionen oder dem Recht auf Religionsausübung lässt
sich dies nicht widerspruchsfrei begründen, zumal die Entwicklung der Kinderrechte
in den letzten 300 Jahren in diesem Bereich nicht nur exklusiv den Mädchen zu
Gute kommen kann. Denn das wäre mit dem Gleichheitsgrundsatz kaum zu vereinbaren.
Natürlich müssen in der laufenden Diskussion auch die Bedürfnisse, Befürchtungen
und Traditionen der beteiligten religiösen Gruppen Berücksichtigung finden.
Hier muss auch wechselseitiges Verständnis gefördert werden. Der schwerwiegende
Vorwurf jedoch - unter assoziativem Verweis auf den Holocaust - durch ein Verbot
der rituellen Jungenbeschneidung würde "jüdisches Leben in Deutschland"
unmöglich werden, ist für Vertreter des Kinderschutzgedankens nicht hinnehmbar.
Es geht vielmehr darum, auch jüdisches und islamisches Leben im Rahmen der deutschen
Rechtsordnung zu schützen. Als Kinder der Aufklärung müssen wir endlich die
Augen aufmachen: Man tut Kindern nicht weh!
Das haben mittlerweile auch engagierte Gegner der Ritualbeschneidung wie
Jonathan Enosch auch in Israel erkannt. Bei ihnen stieß das Kölner Urteil auf
deutliche Zustimmung. Herr Nadeem Elyas, ehemaliger Vorsitzender des Zentralrates
der Muslime, hält beispielsweise den Zeitpunkt aus Sicht des Islam für variabel,
eine besonders wichtige Aussage, da die Beschneidung im Alter von 4-6 Jahren
aus entwicklungspsychologischer Sicht besonders gravierende psychotraumatische
Wirkungen entfalten kann. In diesem Alter erfolgt die Konsolidierung der sexuellen
Identität unter dem empathischen Schutz der Eltern. Warum sollte man nicht warten,
bis der Betroffene einsichtig zustimmen kann?
Eine Lösung dieses Konfliktes kann nicht auf der Grundlage von Angst und
Zwang erfolgen. Wir Unterzeichnenden bitten Sie als Gesetzgeber deshalb darum,
auch den Kinderschutzgedanken und die Bedürfnisse der betroffenen Kinder zur
Grundlage Ihrer Entscheidungsfindung zu machen. Wir werben dafür, dass Sie sich
in dieser Angelegenheit eindeutig auf der Seite des Kindes positionieren, die
Debatte auf wissenschaftlicher und rechtlicher Grundlage führen und Erkenntnisse
der Hirn- und Präventionsforschung berücksichtigen. Um eine ausgewogene Lösung
zu finden, sollten Sie sich Zeit nehmen für eine Diskussion, die alle Aspekte
berücksichtigt. Das Thema Beschneidung ist zu sensibel für politische Schnellschüsse.
Düsseldorf, den 19.7.2012
Professor Dr. med. Matthias Franz, Universität Düsseldorf - veröffentlicht
in der FAZ am 21.7.2012 mit mehr als 250 Unterschriften von Ärzten, Juristen,
Philosophen u.a.