Die Weihnachtszeit erreicht ihren Höhepunkt. Sei's der
Einkauf fürs Festtagsmenü im übervollen Supermarkt in letzter Minute, sei's ein
Weihnachtslied aus Kinderkehlen, so treuherzig, freudig und falsch angestimmt
wie möglich, sei's der Pflichtbesuch bei den (Schwieger)Eltern -für die
nächsten Tage benötigt man Nerven aus Stahl. Mit seiner Weihnachtsglosse
versucht Christoph Baumgarten die schlimmsten
Momente leichter überstehbar zu machen.
Einmal zu oft "Last Christmas" gehört zu haben muss eine juristisch haltbare
Begründung für einen Amoklauf sein. Wenn diese Folter selbst für völlig
Unmusikalische nicht vorübergehenden Wahnsinn und damit Unzurechnungsfähigkeit
rechtfertigt, was dann? Wenn man nur den Ladenbesitzer erschieöt, kann man auch
auf Notwehr plädieren. Jedes Gericht der Welt wird das verstehen.
Garantiert.
Gut, zur Not kann auch "Oh Tannenbaum" als Begründung herhalten. Gleich
penetrant, gleich omnipräsent. Sprich: Gleich verstandeszersetzend und
nervenzerstörend. In den Wahnsinn treibend. Freilich, hier kann man sich selbst
schützen. Einfach einen anderen Text denken. Oder laut singen. Noch besser. Zum
Beispiel einen Appell an die Revolution, die die arbeitenden Menschen von ihren
Ketten befreit. Ein kleiner Beitrag gegen die zu Weihnachten verordnete
Zwangsharmonie.
Auf zur Revolution
Klingt weit hergeholt? Ist es nicht. Die britische Labour Party tut das seit
1909. Ebenso die Industrial Workers of the World. Das Lied heiöt "The
Red Flag":
The people's flag is deepest red,
It shrouded oft our martyred
dead,
And ere their limbs grew stiff and cold,
Their hearts' blood dyed
its every fold.
Then raise the scarlet standard high.
Within its shade we
live and die,
Though cowards flinch and traitors sneer,
We'll keep the red
flag flying here.
Ursprünglich wurde das Lied zugegebenermaöen zur etwas flotteren irischen
Melodie "The White Stockade" gesungen.
Böse Zungen behaupten, der Niedergang der Labour Party hätte in dem Moment begonnen, als sie zur getragenen Melodie von "Oh Tannenbaum" wechselte. Dem ist einiges abzugewinnen.
Die antiemanzipatorische Alternative
Wem das zu rot ist -auch die Hymne des US-Bundesstaats Maryland wird zu "Oh
Tannenbaum" gesungen. ähnlich wie die Labour Party bediente man sich vermutlich
einfach einer Melodie, die jeder kannte:
The despot's heel is on thy shore, Maryland!
His torch is at thy
temple door, Maryland!
Avenge the patriotic gore
That flecked the streets
of Baltimore,
And be the battle queen of yore, Maryland! My
Maryland!
Das Lied ist alles andere als rot. Es war ursprünglich ein Kampflied der
Konföderierten im US-amerikanischen Bürgerkrieg. Der Despot, der hier
angesprochen wird, ist Abraham Lincoln. Der Präsident, der die Sklaven befreite.
Als Alternativ-Version zu "Oh Tannenbaum" erscheint es eher für konservativere
Geister geeignet. Auch die sind Menschen und leiden genauso unter der
Weihnachtszeit wie jeder andere.
Bedenkt man den politischen Hintergrund des Liedes, passt es mit seinem
ausgesprochen antiemzipatorischen Charakter hervorragend zum Fest.