Die Integration islamischer Gemeinschaften in liberal-demokratische
Gesellschaften erfordert eine grundlegende Reform des Islam.
Lippenbekenntnisse zum modernen Rechtsstaat genügen keineswegs.
Der
Religionsfriede ist eine historische Errungenschaft Europas, die mit
unermesslichen Opfern verbunden war. Allein der Dreißigjährige Krieg
dezimierte in manchen Regionen des Kontinents die Bevölkerung auf bis zu
30 Prozent. Die staatstheoretische und religionspolitische
Voraussetzung für die Überwindung der Religionskriege schuf der
Philosoph Thomas Hobbes (1588 bis 1679) in seiner 1651 publizierten Schrift "Leviathan"
(Abb.Wikipedia), in der er mit einem Geniestreich den Staat zum höchsten Souverän unter
Gott erklärte. Die Kirchen und alle Glaubensgemeinschaften sollten sich
dem neu geschaffenen Souverän - dem Leviathan – unterwerfen. Um in
Frieden, in individueller Freiheit und unter Garantie des
Privateigentums leben zu können, schließen die Menschen einen
einseitigen Vertrag mit dem Leviathan - wie einst Moses mit Gott auf dem
Berg Sinai - und übertragen ihm die Souveränität.
Der moderne
Rechtsstaat ist weitgehend religionsneutral - Ausnahmen sind die noch
bestehenden Staatskirchen -, er garantiert die Religionsfreiheit und
schützt sie.
Dieses Modell des modernen Leviathan setzt voraus,
dass die Religionsgemeinschaften den Primat staatlicher Souveränität
akzeptieren und auf eine politischeTheologie verzichten:
Religionsgemeinschaften in modernen Rechtsstaaten müssen die
Institutionen des Staates, die Demokratie und den Pluralismus von
gleichberechtigten Religionen anerkennen, um in den Genuss staatlicher
Anerkennung zu kommen. Darüber hinaus ist die Akzeptanz säkularer
staatlicher Souveränität durch Religionsgemeinschaften die unabdingbare
Voraussetzungfür Religionsfreiheit und staatliche Religionsneutralität.
Allgemein gesprochen: Moderne Rechtsstaaten und politische
Religionen sind unvereinbar. Eine politische Religion kann transzendent
oder säkular begründet sein beziehungsweise einen transzendenten und
politischen Bezug aufweisen. Da der orthodoxe Islam sowohl in der
sunnitischen als auch in der schiitischen Ausprägung die göttlichen
Gesetze des Korans und der Sunna über jede bürgerlich-säkulare
Verfassung stellt, können diese Gemeinschaften den Rechtsstaat nur auf
Zeit anerkennen. Moderner Rechtsstaat und orthodoxer Islam schließen
sich gegenseitig aus.
Die Integration islamischer Gemeinschaften
in liberal-demokratische Gesellschaften und ihre staatliche Anerkennung
als rechtlich geschützte Religionsgemeinschaft erfordern eine
grundlegende Reform des Islam. Das bedeutet, dass ein Lippenbekenntnis
zum modernen Rechtsstaat keineswegs genügt, um die islamischen
Gemeinschaften rechtlich anzuerkennen. Ein europäischer Islam
beziehungsweise ein reformierter Islam müssen zumindest eine radikale
Reform der Scharia respektive deren Abschaffung vornehmen, also nichts
Geringeres als eine grundlegende Religionsreform. Laut einer Studie des
Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen stellen knapp 50
Prozent der Muslime in Deutschland den Islam über die Demokratie, das
heißt, für sie hat die Scharia einen höheren Stellenwert als der
demokratische Rechtsstaat. Im Konflikt von Demokratie und Islam
entscheidet sich somit die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime
für den Islam und die Scharia.
Die vagen Bekenntnisse von
Vertretern der islamischen Verbände sind mehr als fragwürdig: Die
islamische Gemeinschaft Millî Görüş beispielweise spricht von Koexistenz
von Muslimen und Nichtmuslimen. Dieser aus dem Kalten Krieg stammende
Begriff wurde von den Kommunisten als vorübergehende Waffenruhe im Kampf
um die Weltherrschaft gesehen. In ähnlicher Weise sieht es
offensichtlich Millî Görüş. „Millî Görüş“ (Nationale Sicht) war
auch der Titel des Buches, das der ehemalige türkische
Ministerpräsident und Gründer der islamistischen „Wohlfahrtspartei“, Necmettin Erbakan, publizierte. Von ihm stammt der berühmt-berüchtigte Ausspruch: „Die Europäer glauben, dass die Muslime nur zum Geldverdienen nach Europa gekommen sind. Aber Allah hat einen anderen Plan.“ Der türkische Präsident Recep Erdoğan verkündete auf einer Wahlveranstaltung im Jahr 1997 eine Art Kriegserklärung: „Die
Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel
sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette,
die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“ Aber
auch innerdeutsche Wortmeldungen geben zu denken. So hat der ehemalige
Vorsitzende des Zentralrates der Muslime in Deutschland, Nadeem Elyas, auf die Frage, ob der Islam mit dem säkularen Rechtsstaat vereinbar ist, freimütig bekannt: „Ja, solange wir in der Minderheit sind!“
Die
gegenwärtige politische Diskussion um die Friedfertigkeit des Islam
unterstellt offensichtlich unmündige Bürger, die nicht in der Lage sind,
eigenständig zu urteilen. Aus diesem Grund werden pauschal alle
Islamkritiker in eine islamophobe Ecke gestellt, damit wird
Religionskritik tendenziell kriminalisiert.
Ohne die
kritischeAuseinandersetzung mit den Religionen hätte es jedoch in Europa
keine Aufklärung und Moderne gegeben, sie war und ist ein grundlegender
Bestandteil der Demokratie und des säkularen Rechtsstaates. Wer die
Probleme einer Integration des Islam in europäische Staaten und
Gesellschaften bagatellisiert, missachtet die Verantwortung für kommende
Generationen. Kinder und später Geborene haben bekanntlich keine
Stimme, deshalb sind wir verpflichtet, ihre Zukunft zu bedenken und
ihnen die gleichen Chancen zu geben, in einer demokratischen und offenen
Gesellschaft leben zu können.
Da der orthodoxe Islam keine
historisch-kritische Interpretation kennt, wird jede Entscheidung für die
Integration des Islam zur Gesellschaftsfalle, das heißt, letztlich
droht der Gottesstaat. Solche Staaten haben bezeichnenderweise in allen
internationalen Qualitätskriterien wie Friedensindex, Einhaltung der
Menschenrechte, Einkommensverteilung, Buchneuerscheinungen, Patente und
Lebensqualität einen festen Platz am Ende der Skala. Haben wir jemals
von einem Politiker oder einem Theologen aus der islamischen Welt
gehört, dass das Christentum ein integraler Teil ihrer Kultur und
deshalb die Zukunft des Islam eng mit dem Christentum verbunden sei?
Aber
wenn wir die Sache des Leviathan mit Nachdruck und Festigkeit vertreten
und eine Koalition mit freiheitsliebenden Muslimen schaffen, hat Hobbes
noch eine Chance. Zurzeit sieht es nicht danach aus: Anstatt der Welt
ein längst fälliges Sir-Karl-Popper-Institut zur „Förderung einer offenen Gesellschaft“ im Palais Sturany zu schenken, hat Österreich es vorgezogen, die Ringstraße um eine "Missionsstation" für islamische Orthodoxie zu bereichern.
Gerhard Engelmayer, Wiener des Jahrgangs 1947, ist Vorsitzender der Freidenker Österreichs (www.freidenker.at).
Michael Ley, geboren 1955 in Konstanz, lebt als Sozialwissenschaftler in Wien.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.01.2015
- freidenker.at, 05.01.2015)