Neoliberale Politik zerstört Europäische Solidarität

Bernhard Uhrig am 11. Mai 2016 auf http://hpd.de

Um die Jahreswende wandte sich Jean-Claude Juncker, Präsident der Europäischen Kommission, im Rahmen der Flüchtlingsdebatte an die Öffentlichkeit und warnte vor Kontrollen an den nationalen Grenzen. "Wer Schengen killt, wird im Endeffekt den Binnenmarkt zu Grabe tragen". Auch deutsche Politiker beklagten die nationalen Alleingänge, sahen schlimme Folgen für die deutsche Wirtschaft und forderten Solidarität von den anderen Mitgliedern der EU.

Juncker liegt mit seiner Einschätzung sicher richtig, doch hier stellt sich die Frage, ob die mangelnde europäische Solidarität, welche die deutsche Regierung jetzt so lautstark beklagt, und die in der Flüchtlingsfrage so offensichtlich zu Tage getreten ist, wirklich nur ein aktuelles Problem darstellt, oder ob die Ursachen für die fehlende Solidarität nicht viel tiefer liegen.

Tatsächlich muss man einige Jahrzehnte zurückgehen. In den 1960er und 1970er Jahren hat der "Meisterdenker" des neoliberalen Projekts, Milton Friedman, in seiner Theorie verkündet, dass der freie Markt für die Freiheit des Einzelnen konstituierend sei, und dass er mit möglichst wenig Staat am besten funktioniere. Er hat allerdings dabei "übersehen", dass sich die Marktteilnehmer sehr unterschiedlich in den Markt einbringen. Während der genannte Gedanke für die großen Kapitalbesitzer gewiss sehr attraktiv ist, müssen abhängig Beschäftigte und kleine Selbstständige an einem starken Staat, der faire Beschäftigungsverhältnisse und Mindestlöhne garantiert, interessiert sein.

Ab dem Jahr 2003 begann Kanzler Schröder unter der rotgrünen Bundesregierung mit seinem "Reformpaket" Harz IV die Vorgaben der neoliberalen Theorie umzusetzen. Der Spitzensteuersatz wurde gesenkt und die Sozialsysteme drastisch heruntergefahren. Es entstand, durchaus gewollt, eine große Anzahl prekär Beschäftigter, gezeichnet von Minijobs, befristeten Arbeitsverhältnissen, unbezahlten Praktikumsplätzen und verfestigter Langzeitarbeitslosigkeit. In der Mittelschicht breiteten sich Unsicherheit und Abstiegsängste aus, denn auch die besser bezahlten Jobs gerieten unter Druck. Die Löhne stagnierten und die Aufstiegschancen schwanden.

Die Reichen wurden und werden reicher, die Armen ärmer und zahlreicher, und die Menschen der Mittelschicht und vor allem deren Kinder können nicht mehr sicher sein, dass sie ihren sozialen Status halten können. Nach einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaft gehört mittlerweile dem reichsten ein Prozent der Bundesbürger ein Drittel des deutschen Vermögens (Tagesspiegel 6.12.15). Zwar gibt es auch in anderen europäischen Ländern ähnliche Tendenzen, aber nirgendwo in Europa ist die Spanne zwischen Arm und Reich so extrem wie in Deutschland.

Wenn trotzdem die deutsche Wirtschaft brummt, liegt dies vor allem daran, dass die deutsche Exportwirtschaft aufgrund der hiesigen niedrigen Löhne und auf dem Rücken der prekär Beschäftigten Gewinne auf Kosten der europäischen Nachbarn einfahren kann. Dieser Boom ist nicht nur nicht zukunftsträchtig, er unterminiert die europäische Solidarität. Inzwischen warnt schon das Wirtschaftsforum in Davos, dem wohl niemand eine kapitalkritische Haltung vorwerfen kann, dass die ungerechte Vermögensverteilung die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland einschränken werde (Berliner Zeitung 8.9.15).

Man sollte nicht davon ausgehen, dass sich neoliberales Gedankengut auf die Wirtschaft beschränken ließe. Wie süßes Gift sickert es in alle Poren der Gesellschaft und fördert einen egozentrischen Individualismus, Entsolidarisierung und unsoziales Handeln. Es vergiftet zwischenmenschliche Beziehungen genauso wie das politische Handeln und den Umgang in sozialen und politischen Systemen. Warum sollten beispielsweise Menschen noch wählen gehen, wenn mehr oder weniger alle Parteien neoliberale Politik als alternativlos darstellen? Viele prekär Beschäftigte werden sich vermutlich diese Frage bei jeder Wahl stellen oder gleich gar nicht wählen gehen.

Mit der Eurokrise ab 2010, die im wesentlichen eine Krise der Finanzwirtschaft und der Banken war, weil diese sich in Spekulationen statt solider Kreditfinanzierung verausgabt hatten, zeigte sich erneut, was in Europa unter Solidarität zu verstehen ist. Die Banken wurden mit vielen Milliarden der Steuerzahler gerettet, und die Bürger mussten mit ansehen wie ihre Sozialleistungen zusammengestrichen wurden.

Stets wurde damit argumentiert, dass man die Staatsfinanzen sanieren müsse, aber ich habe bisher noch von keinem Vertreter des IWF, der Europäischen Zentralbank oder der politischen Elite Europas gehört, dass man dies auch tun könne, indem man den Spitzensteuersatz, die Kapitalertragssteuer und die Erbschaftssteuer erhöht oder eine Vermögenssteuer einführt. Auch die sogenannte Tobin-Steuer, eine Finanztransaktionssteuer auf internationale Devisengeschäfte wurde in Europa lange diskutiert und dann auf die lange Bank geschoben. Stets wurden, wenn die Sanierung der Staatsfinanzen verlangt werden, die große Mehrheit der Bürger geschröpft und die Reichen verschont.

Als während der Eurokrise die sogenannten GIIPS-Staaten (Griechenland, Italien, Irland, Portugal, Spanien) Schwierigkeiten bekamen, günstige Kredite an den internationalen Kapitalmärkten aufzunehmen, bestand die Solidarität Deutschlands, dem wirtschaftlich stärksten Land innerhalb der Europäischen Union, darin, den betroffenen Nachbarn die neoliberale Rosskur aufzudrücken, die Deutschland schon vollzogen hatte. Nach Kanzlerin Merkel sei diese Politik alternativlos! Die Banker ließen die Sektkorken knallen, die Folgen für die Mehrheit der Bevölkerung in den genannten Staaten waren verheerend: Die Arbeitslosigkeit hat sich deutlich erhöht, in Griechenland mehr als verdoppelt. Die Jugendarbeitslosigkeit lag im Januar 2016 in Griechenland bei 48%, in Italien bei 39%, in Irland bei 19%, in Portugal bei 30% und in Spanien bei 45%. Die Jugend Europas wird die europäische Solidarität zu schätzen wissen.

In der Flüchtlingskrise hat die Kanzlerin Merkel eine zwiespältige Rolle gespielt. Während ihre großherzige Geste, ab 2015 rund eine Million Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen, zunächst allgemein begrüßt wurde, ist inzwischen deutlich geworden, dass die Kanzlerin ihre Bürger zu wenig in ihre Entscheidung und deren Folgen einbezogen hat. Aus der aufmunternden Rede "Wir schaffen das" ist inzwischen die zögerliche Frage "Wie sollen wir das schaffen?" geworden. Aber die Kanzlerin hat auch die europäischen Nachbarn, von denen sie jetzt lautstark Solidarität einfordert, nicht in ihre Entscheidung einbezogen. In den Jahren zuvor hat sie sich auf die Dublin-Verordnung berufen, die besagt, dass der Staat, in den der Asylbewerber zuerst eingereist ist, das Asylverfahren durchführen muss. Als Griechenland und Italien in den Jahren zuvor mit vielen Flüchtlingen zu tun hatten und um europäische Umverteilung und Solidarität baten, hat sich die deutsche Kanzlerin zurückgelehnt und auf die genannte Verordnung verwiesen. Jetzt verlangt sie Solidarität, die sie selbst nicht zu geben bereit war.

Wenn Solidarität in Europa wieder eine größere Rolle spielen soll, dann müssen sich Bürger und Politiker Europas vom neoliberalen Dogma, das solidarische Politik unterminiert, verabschieden und eine Wirtschaftspolitik verfolgen, die allen Schichten der Bevölkerung gerecht wird.