Heiliger Geist und Emergenz

Publiziert am 10. Juni 2016 von Wilfried Müller auf www.wissenbloggt.de

In diesem Beitrag diskutieren zwei Experten über Halbwahrheiten und Lügen. Georg Korfmacher und Dr. Günter Dedié sind Autoren u.a. bei wissenbloggt. Anlass ist die Predigt zum Pfingstfest in der Münchner Matthäuskirche vom evangelischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm am 15.5.: … Die Spuren des Heiligen Geistes mit seiner Kraft zum Neuen, zum Überraschenden, sind bis in die Wissenschaften hinein zu finden. Ja, auch die moderne Wissenschaft kennt ein Phänomen, das man als Spur des Heiligen Geistes verstehen kann. Die Wissenschaftler nennen es „Emergenz“. … (Bild: ClkerFreeVectorImages, pixabay)

Heiliger Geist und Emergenz

Könnte man sich vorstellen, dass ein als glaubwürdig gehandelter Mann durch Halbwahrheiten große Lügen verbreitet? Ja, man kann! Man muss sich dann aber die Mühe machen, der Pfingstpredigt des Landesbischofs der ev. Kirche in Bayern zu lauschen. Denn dort wurde versucht, die Emergenz mit dem Wirken des Heiligen Geistes zu erklären.

Zugegeben, viele Menschen haben mit dem Heiligen Geist als dritte Gottheit des Christentums schon ihre Schwierigkeiten. Diese jetzt aber mit dem doch weithin unbekannten Begriff der Emergenz zu erklären, grenzt an schwindelerregende Seiltänzerei und erinnert an ebenso ungezählte wie gescheiterte Versuche, die christlichen Götter und deren Wirken wissenschaftlich zu belegen. Dazu ein Zwiegespräch zwischen Georg Korfmacher (GK) und Dr. Günter Dedié (GD).

GK: In seiner Pfingstpredigt 2016 stellt der gebürtige Allgäuer Bedford-Strohm die verblüffende These auf, dass die aus der Wissenschaft bekannte Emergenz die Spur des Heiligen Geistes in unserer Welt sei. Eine Predigt über den Heiligen Geist hatten die treuen Gläubigen sicher erwartet, aber mit der Emergenz zu seiner Erklärung waren die meisten wohl restlos überfordert. Was ist denn eigentlich Emergenz?

GD: Als Physiker verschlägt es mir da auch die Sprache. Die Emergenz bezeichnet nämlich schlicht und einfach die Selbstorganisation von Prozessen, deren Ergebnisse durch die Wechselwirkungen der am Prozess beteiligten Elemente bestimmt werden. Man spricht dann von emergenten Prozessen. Es kommt dabei aber etwas heraus, was man rein wissenschaftlich nicht immer im Detail vorhersagen kann. Das geschieht besonders im gesellschaftlichen Bereich bei den dort herrschenden, sehr komplexen Zusammenhängen und über längere Zeiträume. Mit der Einwirkung von übersinnlichen Kräften oder gar einem Heiligen Geist hat das aber nichts zu tun. Ähnliche Versuche machen die Kirchen übrigens auch gerne mit wissenschaftlich gesicherten Aussagen der Quantentheorie, die unserer Anschauung nicht ohne weiteres zugänglich sind.

GK: Demnach gibt es also keine einzelne, lenkende Kraft, die den ganzen Prozess zielsicher auf einen Punkt zuführt, obwohl der ev. Bischof von der Emergenz als von einem Phänomen der modernen Wissenschaft spricht, "das man als Spur des Heiligen Geistes verstehen kann".

GD: Also, da bringt der Kirchenmann ein paar entscheidende Dinge durcheinander bzw. stellt sie zum eigenen Nutzen unzureichend dar. Erstens hat noch kein Wissenschaftler in der Emergenz einen Heiligen Geist entdeckt und schon gar nicht dessen Wirken nachgewiesen, zweitens steht die Behauptung im Widerspruch dazu, dass die emergenten Prozesse nicht esoterische Theorien sind, sondern Abläufe in der realen Welt, die wissenschaftlich untersucht und beschrieben werden können. Auch ohne den Heiligen Geist. Eine gewisse Unvorhersehbarkeit, die aber wissenschaftlich als deterministisches Chaos sehr wohl sauber beschreibbar ist, ergibt sich im Wesentlichen durch die Vielzahl und Gesamtheit der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Elementen. Die emergenten Prozesse sind deshalb oft etwas komplizierter, als uns aufgrund unserer alltäglichen Erfahrungen lieb ist. Das fasst man gern unter dem Begriff Komplexität zusammen. Aus Sicht der Mathematiker sind diese Prozesse oft nichtlinear, was in der Mathematik aber nichts Exotisches ist.

GK: Dann könnte man ja spöttisch sagen, dass der Kirchenmann die Emergenz nur deshalb bemüht, weil er die Komplexität des im Nachhinein von wem und aus welchem Grund auch immer niedergeschriebenen Pfingstereignisses selbst nicht versteht bzw. erklären kann und zur Camouflage seines mangelnden Wissens einen möglichst exotischen wissenschaftlichen Begriff anzieht, den die überwiegende Mehrzahl seiner auf Glauben getrimmten Zuhörer wahrscheinlich überhaupt nicht kennt und schon gar nicht versteht. Fazit: Man bewundert den Vortragenden ob seiner Gelehrsamkeit!

GD: Aus meiner Sicht ist das weniger mangelndes Wissen sondern der Versuch, der Religion ein naturwissenschaftliches Mäntelchen umzuhängen, ohne dass es die meisten Menschen merken. Solche Verzerrungen passieren leider nicht nur in Religionsgemeinschaften, sondern auch in der Politik, der Industrie und unserer Gesellschaft: Eigene Taktiken durch möglichst bombastische Begriffe „verklären“, und dann womöglich auch noch das Copyright darauf beanspruchen. Zugegeben, die Emergenz ist auf Anhieb nicht leicht zu verstehen, begegnet uns aber tagtäglich, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Nehmen wir z.B. einen Ameisenhaufen, dessen Struktur oder System wir nicht verstehen, wenn wir nur die 100 Meter davon entfernt scheinbar chaotisch herumlaufende einzelne Ameise betrachten. Erst durch genaue Beobachtung der Interaktionen zwischen nahen Ameisen erhalten wir ein Bild davon, wie das System insgesamt entsteht und funktioniert. Jede Ameise hat ihre spezifische Aufgabe und interagiert mit anderen Ameisen, oft über Pheromone. Die Aufgabe der drittnächsten Ameise kennt sie womöglich überhaupt nicht. Den gesamten Prozess nennt die Wissenschaft emergent, weil aus dem chaotischen Herumlaufen einer einzelnen Ameise (Element) das Ergebnis Ameisenstraße oder Ameisenstaat (Struktur/System) nicht vorhersehbar ist. Das System insgesamt organisiert sich selbst komplex und nur teilweise vorhersehbar, obwohl die Eigenschaften seiner Elemente bekannt sind.

GK: Emergenz ist also eine Systematik in der realen Welt ohne Hokuspokus und überirdischen Erklärungsbedarf. Insofern kann man die eigennützig verzerrte Darstellung des Kirchenmannes auch als Halbwahrheit sehen, die nach Benjamin Franklin auch eine große Lüge sein kann.

GD: Ja, die Predigt ist ein typisches Beispiel dafür, dass zu einem Thema oder Ereignis bekannte, zutreffende Fakten mit Weglassungen, Irreführungen und suggestiven Spekulationen kombiniert werden. Perfekte Desinformation, vielleicht unter Anleitung des Heiligen Geistes.

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Verlag tredition, zweite Auflage 2015.