In diesem Beitrag diskutieren zwei Experten über Halbwahrheiten und Lügen. Georg Korfmacher und Dr. Günter Dedié sind Autoren u.a. bei wissenbloggt. Anlass ist die Predigt zum Pfingstfest in der Münchner Matthäuskirche vom evangelischen Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm am 15.5.: … Die Spuren des Heiligen Geistes mit seiner Kraft zum Neuen, zum Überraschenden, sind bis in die Wissenschaften hinein zu finden. Ja, auch die moderne Wissenschaft kennt ein Phänomen, das man als Spur des Heiligen Geistes verstehen kann. Die Wissenschaftler nennen es „Emergenz“. … (Bild: ClkerFreeVectorImages, pixabay)
Könnte man sich vorstellen, dass ein als glaubwürdig
gehandelter Mann durch Halbwahrheiten große Lügen verbreitet? Ja, man
kann! Man muss sich dann aber die Mühe machen, der Pfingstpredigt des
Landesbischofs der ev. Kirche in Bayern zu lauschen. Denn dort wurde
versucht, die Emergenz mit dem Wirken des Heiligen Geistes zu erklären.
Zugegeben, viele Menschen haben mit dem Heiligen Geist als dritte
Gottheit des Christentums schon ihre Schwierigkeiten. Diese jetzt aber
mit dem doch weithin unbekannten Begriff der Emergenz zu erklären,
grenzt an schwindelerregende Seiltänzerei und erinnert an ebenso
ungezählte wie gescheiterte Versuche, die christlichen Götter und deren
Wirken wissenschaftlich zu belegen. Dazu ein Zwiegespräch zwischen Georg
Korfmacher (GK) und Dr. Günter Dedié (GD).
GK: In seiner Pfingstpredigt 2016 stellt der gebürtige
Allgäuer Bedford-Strohm die verblüffende These auf, dass die aus der
Wissenschaft bekannte Emergenz die Spur des Heiligen Geistes in unserer
Welt sei. Eine Predigt über den Heiligen Geist hatten die treuen
Gläubigen sicher erwartet, aber mit der Emergenz zu seiner Erklärung
waren die meisten wohl restlos überfordert. Was ist denn eigentlich
Emergenz?
GD: Als Physiker verschlägt es mir da auch die
Sprache. Die Emergenz bezeichnet nämlich schlicht und einfach die
Selbstorganisation von Prozessen, deren Ergebnisse durch die
Wechselwirkungen der am Prozess beteiligten Elemente bestimmt werden.
Man spricht dann von emergenten Prozessen. Es kommt dabei aber etwas
heraus, was man rein wissenschaftlich nicht immer im Detail vorhersagen
kann. Das geschieht besonders im gesellschaftlichen Bereich bei den dort
herrschenden, sehr komplexen Zusammenhängen und über längere Zeiträume.
Mit der Einwirkung von übersinnlichen Kräften oder gar einem Heiligen
Geist hat das aber nichts zu tun. Ähnliche Versuche machen die Kirchen
übrigens auch gerne mit wissenschaftlich gesicherten Aussagen der
Quantentheorie, die unserer Anschauung nicht ohne weiteres zugänglich
sind.
GK: Demnach gibt es also keine einzelne, lenkende
Kraft, die den ganzen Prozess zielsicher auf einen Punkt zuführt, obwohl
der ev. Bischof von der Emergenz als von einem Phänomen der modernen
Wissenschaft spricht, "das man als Spur des Heiligen Geistes verstehen
kann".
GD: Also, da bringt der Kirchenmann ein paar
entscheidende Dinge durcheinander bzw. stellt sie zum eigenen Nutzen
unzureichend dar. Erstens hat noch kein Wissenschaftler in der Emergenz
einen Heiligen Geist entdeckt und schon gar nicht dessen Wirken
nachgewiesen, zweitens steht die Behauptung im Widerspruch dazu, dass
die emergenten Prozesse nicht esoterische Theorien sind, sondern Abläufe
in der realen Welt, die wissenschaftlich untersucht und beschrieben
werden können. Auch ohne den Heiligen Geist. Eine gewisse
Unvorhersehbarkeit, die aber wissenschaftlich als deterministisches Chaos
sehr wohl sauber beschreibbar ist, ergibt sich im Wesentlichen durch
die Vielzahl und Gesamtheit der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen
Elementen. Die emergenten Prozesse sind deshalb oft etwas komplizierter,
als uns aufgrund unserer alltäglichen Erfahrungen lieb ist. Das fasst
man gern unter dem Begriff Komplexität zusammen. Aus Sicht der Mathematiker sind diese Prozesse oft nichtlinear, was in der Mathematik aber nichts Exotisches ist.
GK: Dann könnte man ja spöttisch sagen, dass der
Kirchenmann die Emergenz nur deshalb bemüht, weil er die Komplexität des
im Nachhinein von wem und aus welchem Grund auch immer
niedergeschriebenen Pfingstereignisses selbst nicht versteht bzw.
erklären kann und zur Camouflage seines mangelnden Wissens einen
möglichst exotischen wissenschaftlichen Begriff anzieht, den die
überwiegende Mehrzahl seiner auf Glauben getrimmten Zuhörer
wahrscheinlich überhaupt nicht kennt und schon gar nicht versteht.
Fazit: Man bewundert den Vortragenden ob seiner Gelehrsamkeit!
GD: Aus meiner Sicht ist das weniger mangelndes Wissen
sondern der Versuch, der Religion ein naturwissenschaftliches
Mäntelchen umzuhängen, ohne dass es die meisten Menschen merken. Solche
Verzerrungen passieren leider nicht nur in Religionsgemeinschaften,
sondern auch in der Politik, der Industrie und unserer Gesellschaft:
Eigene Taktiken durch möglichst bombastische Begriffe „verklären“, und
dann womöglich auch noch das Copyright darauf beanspruchen. Zugegeben,
die Emergenz ist auf Anhieb nicht leicht zu verstehen, begegnet uns aber
tagtäglich, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Nehmen wir z.B.
einen Ameisenhaufen, dessen Struktur oder System wir nicht verstehen,
wenn wir nur die 100 Meter davon entfernt scheinbar chaotisch
herumlaufende einzelne Ameise betrachten. Erst durch genaue Beobachtung
der Interaktionen zwischen nahen Ameisen erhalten wir ein Bild davon,
wie das System insgesamt entsteht und funktioniert. Jede Ameise hat ihre
spezifische Aufgabe und interagiert mit anderen Ameisen, oft über
Pheromone. Die Aufgabe der drittnächsten Ameise kennt sie womöglich
überhaupt nicht. Den gesamten Prozess nennt die Wissenschaft emergent,
weil aus dem chaotischen Herumlaufen einer einzelnen Ameise (Element)
das Ergebnis Ameisenstraße oder Ameisenstaat
(Struktur/System) nicht vorhersehbar ist. Das System insgesamt
organisiert sich selbst komplex und nur teilweise vorhersehbar, obwohl
die Eigenschaften seiner Elemente bekannt sind.
GK: Emergenz ist also eine Systematik in der realen
Welt ohne Hokuspokus und überirdischen Erklärungsbedarf. Insofern kann
man die eigennützig verzerrte Darstellung des Kirchenmannes auch als
Halbwahrheit sehen, die nach Benjamin Franklin auch eine große Lüge sein
kann.
GD: Ja, die Predigt ist ein typisches Beispiel dafür,
dass zu einem Thema oder Ereignis bekannte, zutreffende Fakten mit
Weglassungen, Irreführungen und suggestiven Spekulationen kombiniert
werden. Perfekte Desinformation, vielleicht unter Anleitung des Heiligen
Geistes.
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Links zu Dediés Buch Die Kraft der Naturgesetze, Günter Dedié,
Verlag tredition, zweite Auflage 2015.