Ja, man soll mit Vergleichen zurückhaltend sein. Und ja, das
gilt besonders für mich, der die schlimmste Zeit der deutschen Geschichte
nicht miterlebt hat. Und jeder Versuch, nur annähernd Parallelen zu ziehen,
würde möglicherweise bedeuten, die damaligen Verbrechen relativieren
zu wollen. Nein, das kann und darf nicht Intention von Nebeneinanderstellungen
sein. Doch gerade, weil ich die Zeit bis 1945 nur aus Geschichtsbüchern,
aus Erzählungen und Dokumentarfilmen kenne, bin ich darauf angewiesen,
diesen oftmals nur bruchstückhaften Darstellungen mein Vertrauen zu schenken.
"Gleichschaltung",
"Ausmerzen", "Erledigen", "Entartung", "Geschwüre",
"Krebs", "Wucherungen", "Säuberung", "Reinigung",
"Dreck" - nein, das sind leider keine plakativen Werbefloskeln für
angepriesenes Waschmittel oder medizinische Fachbegriffe. Diese Ausrufe
kursieren in der türkischen Politik und vor allem auch auf der Straße.
Niemand kann verstehen, wie sich vor 80 Jahren Millionen Menschen an die Lippen
einer einzigen Person hefteten. "Für ihn würde ich sterben",
"Für ihn würde ich mein Leben geben", so skandiert die Menge.
Nein, nicht beim Aufstieg Hitlers, sondern im Jahr 2016 bei Demonstrationen
von AKP-Anhängern für ihren Präsidenten Erdogan.
Ich zerbrach
mir immer wieder den Kopf, welche Psychologie dahinter stecken muss, dass Massen
ihr eigenes Denken abschalten und das vorprogrammierte Band der völligen
Hingabe, ja, sogar Aufgabe, abspulen. Hat es etwas mit der Verteidigung der
Demokratie zu tun, wenn man sich vor Panzer wirft, um sein Leben für einen
Anführer zu geben, der gleichzeitig mehr oder weniger sichtbar gerade diese
Staatsform abschaffen will? Ich habe durchaus den Eindruck gewonnen, dass ein
nicht kleiner Teil der türkischen Bevölkerung sich in einer Autokratie,
in einer Diktatur wohler fühlen würde.
Es hat etwas von verloren
gegangenem Stolz, wenn anscheinend nur der Weg der Macht hilft. Nein, man kann
die Vorgänge in der Türkei keinesfalls mit denen von damals vergleichen.
Es waren andere Dimensionen, es waren andere Beweggründe, es war eine andere
Radikalität, Brutalität und Menschenverachtung. Doch auch die, die
Ankara heute an den Tag legt, ist schon beeindruckend. Vielleicht hätte
man solche Vorgehensweisen aus den Staaten West- oder Ostafrikas erwartet. Aber
von einem Land, das noch bis vor kurzem beabsichtigte, in die Europäische
Union aufgenommen zu werden?
Bildungsapparat, Gerichte, Verwaltungen
- sie alle werden auf Linie gebracht. Ein Land, das nur noch nach einer Pfeife
tanzt. Wer nicht mitmacht, wird abgeführt. Wer sich nicht verbiegen
lässt, wird drangsaliert. Und noch immer schwebt das Schwert der Todesstrafe
über allem. Die Drohung mit der Wiedereinführung der Todesstrafe könnte
ein Bluff sein. Aber auch Realität werden. Denn Erdogan ist die EU mittlerweile
ziemlich egal. Tourismus und Wirtschaft gehen bereits bergab - doch für
einen starken Staat nimmt das Volk das gerne hin. Noch. Denn sollten in der
Türkei tatsächlich wieder Köpfe rollen, nicht im übertragenen,
sondern im wörtlichen Sinne, wäre die Isolation groß.
Zwar
bekunden Brüssel und Berlin ihre konsequente Ablehnung der Todesstrafe
und verbinden mit einer entsprechenden Rückkehr zu dieser Praxis durch
Erdogan das Ende der Beitrittsverhandlungen in die Union. Aber in den Talksendungen
hierzulande rechtfertigen Anhänger des türkischen Staatspräsidenten
Überlegungen nach einem konsequenten Durchgreifen bereits mit der außergewöhnlichen
Situation, die nun noch mit dem Ausnahmezustand untermauert wurde. Die Antwort
unsererseits müsste deutlicher ausfallen, aber wir müssen uns entscheiden.
Ohnehin kann sich kaum jemand vorstellen, wie mit solch einem diktatorischen
Regime ein Flüchtlingspakt aufrecht erhalten werden sollte, der ohnehin
von Beginn an unmenschlich war. Für unsere Regierung scheint die Abwägung
aber ernsthaft zu sein, sie denkt auch noch an unsere Präsenz auf dem türkischen
Luftwaffenstützpunkt Incirlik und die Folgen, die ein Rückzug von
dort hätte.
Doch wer allein mit dem Gedanken spielt, Menschen wieder
töten zu wollen, wer aus dem Hier und Jetzt in mittelalterliche Praktiken
zurückfällt, für den darf es keinen Platz in der EU geben, auch
keine Partnerschaft. Mir scheint, als würde die Bedeutung der Türkei
überhöht. Sie zerstört sich gerade selbst - nicht wir sind auf
sie angewiesen, wohl eher umgekehrt. Das muss deutlich werden, neben dem
Hinweis, dass Menschenrechte nicht temporär "ausgesetzt" werden
können. Frankreich hat in seinem Ausnahmezustand die Grundrechte beschränkt
- das ist zwar ebenso fragwürdig, aber nicht vergleichbar. Damit kann sich
die Türkei nicht aus der Verantwortung nehmen, internationale Konventionen
dauerhaft und zu jeder Zeit einzuhalten.
Ein Staat ist Richtender, aber
nicht Hinrichtender. Wer die Todesstrafe befürwortet, macht es sich einfach.
Er nimmt Kurs auf die Einbahnstraße. Denn wer dieses Urteil vollzieht,
der schafft Tatsachen - was im ersten Moment Sorgen nehmen kann. Doch ein solches
Denken mag nur gelingen, solange das Gewissen ausgeschaltet bleibt. Kurzfristig
dürften die Emotionen befriedigt sein. Aber langfristig sind weder Versöhnung,
noch Reue, noch Frieden möglich - von beiden Seiten. Die Todesstrafe hat
nichts mit Gerechtigkeit zu tun, viel eher mit Rache. Jeder hat ein Recht auf
Leben. Es ist Aufgabe eines Volkes, dies zu schützen. Wenn der Mob nun
auf die Straßen strömt, dann aus Hilflosigkeit. Dann fehlen die Alternativen,
aber auch die Perspektiven. Es ist ein armseliges Selbstbewusstsein, was dort
propagiert wird, ist es doch nur aufgebaut auf heißer Luft.
So
hart es klingt, ich lerne dieser Tage ein bisschen mehr darüber, wie das
war, als meine Großeltern in den Krieg zogen, über die Motivation
von früher. Doch noch viel schlimmer ist: Wir alle denken immer wieder,
solch eine Hypnotisierung eines Volkes könne sich nicht wiederholen. Schon
gar nicht in unseren Breiten. Doch jetzt werden wir eines Besseren belehrt.
Und das scheinbar über Nacht. Was ist da los in einer Gesellschaft,
die blind vor Hass auf Gegner losgeht, sie mundtot macht - und vielleicht noch
mehr? Wer hat dort möglicherweise versagt? Und welche Rolle spielen wir
dabei? Vielleicht können wir aus ehemaligen Fehlern lernen, ein allzu langes
Weggucken dürfen wir uns nicht leisten. Denn von selbst lässt sich
Fanatismus nicht stoppen…