Islamische Republik Türkei

Erdogan zwischen Militarismus und islamischen Nationalismus

Kommentar von Amer Albayati vom 2.9.2016

Bei meiner mehrwöchigen und gefährlichen Studienreise in die Türkei, in der ich als kritischer Beobachter und Augenzeuge, bezüglich des radikalen Islam und bestehenden Terrorrouten nach Europa forschte, wurden alle Befürchtungen in Bezug auf die Entwicklung in der Türkei bestätigt. Diese Entwicklungen betreffen jedoch nicht nur die Türkei. Ebenso wirken diese auf sehr gefährliche Weise auch auf die Zukunft Österreichs und Europas.

Unter Einsatz von polizeilicher Gewalt und Unterdrückung wird Schritt für Schritt ein fundamentalistischer Islam, sowie ein Personenkult nach osmanischem Muster, etabliert. Die Türkei ist auf dem besten Weg, eine islamische Republik wie der Iran zu werden. Erdogan spielt sich als "Muslimführer" auf! Auch "strenggläubige" Muslime fühlen sich von ihm angesprochen, nicht nur radikalen Islamisten. Dieser Staat bietet daher immer häufiger vielen arabischen Islamisten, vor allem den ägyptischen Muslimbrüdern Schutz und Heimat. Er zieht auch viele Araber an, etwa reiche, privilegierte und Akademiker aus den Golfstaaten, aber auch Syrer und Iraker, die in der Türkei Geschäfte und Immobilien kaufen. Denn sie betrachten die Türkei bereits als islamischen Staat.

Wie sehr Erdogan bereits bei kleinen Kindern beginnend, die Islamisierung mit Hochdruck vorantreibt, zeigt ein aktuelles Beispiel:
Es soll ab dem neuen Schuljahr, ab September 2016, auch für Kinder in Grundschulen Arabischunterricht geben - mit dem Ziel nicht nur Arabisch, sondern auch die 1925 abgeschaffte arabisch-osmanische Schrift zu erlernen. Bisher war Arabisch nur als Wahlsprache für Mittelschulen und Gymnasium vorgesehen.

Alles dreht sich nun um "den Willen Gottes" bzw. wird immer häufiger das, was Erdogan dient, als Wille Gottes ausgelegt. Es geht darum den national-fundamentalistischen Islam salonfähig zu machen und jede Form von Liberalismus zu zerstören. All dies werden wir unweigerlich auch in Österreich und Europa zu spüren bekommen. Erste "Kostproben" haben wir schon erleben müssen.

Da sich Tyrannen aber selten an der Macht halten können, da dies zu großen Spannungen innerhalb der Bevölkerung führt, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit von den eigenen Leuten, oder aber seinen Feinden früher oder später beseitigt werden. Denn auch innerhalb der AKP sind die Leute verunsichert. Außerdem sind massenhaft Menschen, die mit dem Putsch nichts zu tun hatten, in vorgefertigten Listen, inhaftiert worden.

Selbst wenn sich die Lage in der Türkei, auf den ersten Blick, nach dem Putschversuch beruhigt hat, ist, ob dies zu einer längerfristigen Stabilität führt, nicht abzusehen. Korruption und Bestechung sind in der Türkei längst verbreitet, erreichen aber unter Erdogan Rekordhöhe.

Die Menschen haben Angst und der Wirtschaft, insbesondere dem Tourismus geht es nicht gut.
Es fehlt wegen der massenhaften Verhaftungen, in allen Bereichen das benötigte Fachpersonal. Da aber viele Türken wegen des wirtschaftlichen Aufschwungs zu Erdogan-Wählern wurden, könnten wirtschaftliche Probleme zu Unruhen führen.

Zudem praktizieren Erdogan und seine Regierung eine aggressive und radikale Innen- und Außenpolitik. Das ist auch für Türken kontraproduktiv und gefährlich! Erdogan entpuppt sich dabei als absoluter Diktator. Zwar hat er laut den letzten Wahlen rund 50 Prozent der Türken hinter sich, aber ebenfalls - aufgrund seiner aggressiven und jähzornigen Politik - sowohl Gegner (Kemalisten, Aleviten), als auch Feinde (Kurden) im eigenen Land. Die im In- und Ausland große Zahl der Anhänger von Fethullah Gülen, die er vernichten will, werden versuchen Rache an ihm zu üben. Erdogan sitzt auf einem Pulverfass!

Dieser gewaltsame Umbau eines Staates, der nur mehr auf dem Papier eine relative Demokratie genannt werden kann, wird immer häufiger die bestehenden Konflikte zwischen Erdogan-Anhängern, säkularen Türken und vor allem Kurden in Österreich und Europa eskalieren lassen und somit auch unsere Sicherheit gefährden. Denn Erdogan fördert durch seine Maßnahmen auch einen "Kalten Glaubenskrieg". Auf populistische Weise spielt er weltweit Muslime und Nicht-Muslime gegeneinander aus. Er schürt den Hass gegen die USA, die Juden und Europa, insbesondere auch gegen Österreich.

Da stellt sich die Frage, ob Erdogan das gespaltene türkische Volk noch einigen kann?
Warum hat Erdogan lange Zeit zugeschaut, dass Flüchtlinge ertrunken sind und Terroristen aus aller Welt und Europa die Türkei passieren?
Schafft es Erdogan, seine inneren und äußeren Feinde und Gegner zu beruhigen?
Ist Erdogan national, regional und international noch glaubwürdig?

Die Kontroverse zwischen der Türkei, Österreich und Europa schadet aber in erste Linie der Türkei selbst, da die Vernunft gebietet, während des EU-Gipfels am 16. September in Bratislava, einen klaren Schulterschluss gegen das türkische Regime zu beschließen.

"Wir - die Muslime in Europa - wollen hier leben. Wir dürfen nicht die Probleme aus anderen Ländern importieren, keine fremden Konflikte in Wien auf die Straße tragen. Ich verlange von jedem Muslim: "Sei loyal zu dem Land, in dem du lebst!" Wenn wir Muslime nicht endlich dem Islam eine Reform europäischer Prägung geben, können wir die Moderne nicht erreichen.
Ich würde Erdogan raten - aus Respekt vor dem türkischen Volk - seine Politik zu ändern.

Die Berichte über Bespitzelung durch Erdogan-Handlanger in Österreich kann ich bestätigen. Auch ich werde sicherlich überwacht. Aber ich bin vorsichtig. Ich wechsle die Orte, an denen ich mich bewege. Als ich kürzlich öffentlich behauptete, dass Erdogan Einfluss auf die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich - IGGiÖ hat, habe ich in Wien wieder etliche Drohungen erhalten, durch soziale Netzwerke und persönlich. Erdogans Geheimdienst ist auch hier sehr aktiv. Auch bin ich selbst schon, als ich in der Türkei war, aufgefordert worden, verdächtige Personen bei der türkischen Botschaft zu melden. Aber das lehne ich selbstverständlich ab.

Zur Person: Der in Wien lebende, gebürtige Iraker Dr. Amer Albayati, ist Mitbegründer der Initiative Liberaler Muslime in Österreich (ILMÖ), Imam, Buchautor und Experte für radikalen Islam und Terrorismus. Der Kenner der Islam-Szene in Österreich hat berechtigte Angst vor Bespitzelung, Angst vor Rache, Angst vor Terroristen, denen er auf der Spur ist. Trotz immer wiederkehrenden Todesdrohungen nicht nur durch den IS (Buch: Auf der Todesliste der IS) lässt er sich nicht den Mund verbieten. Er arbeitet im Sinne Österreichs und allen Menschen hier weiter, als friedlicher Aktivist und Islam-Reformer europäischer Prägung "denn sonst hätten wir verloren"!


Dr. Amer Albayati, Präsident, als liberaler Imam der Initiative Liberaler Muslime Österreich - ILMÖ

Amer Albayati - Buch "Auf der Todesliste des IS" - http://bit.ly/albayati-seifert und http://bit.ly/albayati-amazon