Die Grenzen der Belastbarkeit

Seit in zahlreichen Ländern Westeuropas die Einwanderung zum Normalfall geworden ist, wird darüber gestritten, wieviel an Fremdem eine Gesellschaft vertrage. Anders als jene Mehrheit der (deutschen) Grünen, die offensichtlich auch nur den Gedanken an eine mögliche Begrenzung oder nur Regulierung von Einwanderung für unstatthaft hält, sind wir nicht der Meinung, dies müsse grundsätzlich ein Tabu sein. Jede Einwanderungsgesellschaft (die Vereinigten Staaten sind das beste Beispiel dafür) ist per se eine Konfliktgesellschaft. Es ist (auch das beweist das amerikanische Beispiel, wenn auch nur zum Teil) möglich, diese Konflikte, zivil, demokratisch, friedlich und zum Nutzen der gesamten Gesellschaft auszutragen, aber es gibt diese Konflikte erst einmal: Nicht deswegen, weil die jeweils Einheimischen böswillige Rassisten wären (was sie auch sein können), sondern weil in jeder Einwanderungsgesellschaft Kulturen, Lebensstile und Wertesysteme miteinander in Kontakt kommen, die auf diesen Kontakt nicht vorbereitet sind.

Und es ist sehr wohl vorstellbar, dass in diesen Konflikten derart schwer Vereinbares aufeinander stößt, dass die betreffende Gesellschaft nicht in der Lage ist, auf demokratische Weise damit umzugehen - gerade dann nicht, wenn sie ohnehin schon mit anderen Problemen ökonomischer, kultureller oder religiöser Natur konfrontiert ist. Die ganz unbestreitbare, skandalöse Ungerechtigkeit in der Verteilung des Wohlstands auf der Welt darf daher nicht zum Anlass genommen werden, die Einwanderung als gerechte Strafe für das räuberische Glück der hochentwickelten Länder, als Vergeltungsschlag der Dritten Welt gegen die Zitadellen des Kolonialismus zu begrüßen. Mit einer Destabilisierung der westlichen Länder wäre im übrigen niemanden gedient, dem Westen sowenig wie der Dritten Welt.

Es muss also den Immigrationsgesellschaften erlaubt sein, über mögliche Grenzen der Einwanderung nachzudenken. Freilich sollte man dabei nie vergessen, dass es sich hier um ein brandgefährliches Thema handelt, über das sinnvoll, d.h. in demokratischen Bahnen, nur dann geredet und verhandelt werden kann, wenn es einen breiten gesellschaftlichen Konsens gibt, dass der populistische Kurzschluss aus dem Widerstreit der Argumente grundsätzlich ausgeschlossen bleibt. Die Gründe dafür sind bekannt. Immer wieder ist es Nationalisten, autoritären Regimen sowie Propagandisten einfacher Weltbilder in den letzten hundert Jahren gelungen, die Diskriminierung, Ausschaltung und Vernichtung von Minderheiten als einfache Lösung sehr schwieriger Probleme plausibel zu machen.

Dabei hat in Deutschland (aber nicht nur in Deutschland) stets der Verdacht eine große Rolle gespielt, diese Minderheiten nähmen den Angestammten Raum weg, geographischen wie sozialen. Einmal in Gang gebracht, war gegen diesen frei flottierenden Verdacht kein argumentatives Kraut mehr gewachsen. Keine Evidenz konnte die sich bedrängt, einengt und überfremdet Fühlenden mehr dazu bewegen, nach dem realen Kern ihrer Furcht zu suchen. Denn es ging ja gar nicht um Reales, sondern um ein unbestimmtes Gefühl, zu kurz gekommen zu sein, das sich nahezu ein beliebiges Objekt suchte, um dieses für alle - realen oder eingebildeten - Missstände verantwortlich zu machen. Für einen, der so empfindet - und es gab ihrer in Deutschland einmal sehr viele -, ist das Boot immer schon voll: Er fühlt sich immer als der Gebeutelte und Betrogene - schon ein Fremder muss ihm ein Gräuel sein. Die Nachricht, es seien viele »andere«, zu viele Nicht-Dazugehörige da, wird er immer mit Zustimmung und trüber Genugtuung vernehmen.

Wir halten nichts davon, die Deutschen unter antifaschistische Quarantäne zu stellen, wie es vielen Linken seit Jahrzehnten am liebsten wäre - auch deswegen nicht, weil der Generalverdacht gegenüber den auf ewig völkisch angesehenen Deutschen selbst wieder völkisch wäre und weil es immer falsch ist, auf rechte Tabus mit linken Tabus zu antworten. Die Tatsache, dass es eine xenophobe (= fremdenfürchtende) Disposition gibt, darf also nicht dazu verleiten, die möglicherweise negativen Seiten der Einwanderung zu tabuisieren - nicht zuletzt deswegen nicht, weil gerade durch eine solche Tabuisierung (die ja von einigen ausländerfreundlichen Organisationen und Initiativen betrieben wird) die Populisten letztlich recht bekämen. Nur eines muss klar und unumstritten sein: Das Spiel auf den Saiten der xenophoben Disposition hat grundsätzlich zu unterbleiben - auch auf die Gefahr hin, eine Wahl zu verlieren oder der eigenen Klientel Unangenehmes mitteilen zu müssen. Es gibt in der Demokratie nicht viele Werte, die über den Wahlerfolg, der Einschaltquote und der Auflagenstärke angesiedelt sind. Dies - um des Friedens und der Zivilität der Gesellschaft willen, der Verzicht aufs Spiel mit dem Ressentiment - wäre einer.

Dieser Text von Daniel Cohn-Bendit stammt aus dem Buch "Heimat Babylon", Verlag Hoffmann und Campe 1993, Seite 30ff, er ist also rund 24 Jahre alt, beschreibt aber die Zweischneidigkeit der Migrationen in ganz aktueller Weise, speziell auch in Bezug auf das Gefühl von Eingeborenen gegenüber Zuwanderern zu kurz zu kommen. Und da heute der Neoliberalismus die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung schon institutionell so behandelt, dass das Gefühl des Zukurzkommens einen realen Daseinhintergrund hat, hat sich diese Situation gegenüber den Neunzigerjahren stark verschärft. Zusätzlich noch durch den Umstand, dass die Anhänger der Willkommenskultur vom Neoliberalismus in der Regel nicht unmittelbar betroffen sind, aber in ihrem Verhalten psychische Selbstbestätigung erleben, sich also nicht als zu kurz gekommen, sondern als emporgehoben empfinden. Den Populisten dient inzwischen der Boden des Daseins vieler Menschen als Ausgangsbasis für ihre Erfolge, wegreden lässt sich das heute ebenso wenig wie vor einem Vierteljahrhundert...