Forderung nach religiöser Orientierung:

Aussendung von Dennis Riehle am 21.2.2017

Bevormundet Winfried Kretschmann "seine" Bürger?

Darf ein Politiker eine Rede halten, in der er öffentlich eine "Orientierung an religiösen Werten" einfordert? Überschreitet ein Ministerpräsident seine gebotene weltanschauliche Unabhängigkeit, wenn er Werte wie Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit oder Gerechtigkeit den Religionen zuschreibt, dabei aber verkennt, dass gerade sie es nicht sind, die momentan solche Tugenden vorleben? Winfried Kretschmann hat es trotzdem getan: Bei seiner "Weltethos"-Rede in Tübingen appellierte der "Grüne" an die Gesellschaft, sich wieder darauf zu besinnen, was das "Parlament der Weltreligionen beschrieben hat".


Winfried Kretschmann  - TV-Screenshot

Man mag sich ernsthaft fragen, wie kritisch sich der Ministerpräsident gegenüber seinem Eid, seinem Verhältnis zu Kirchen und Religionen und deren Einfluss auf die Politik gibt. Nicht zum ersten Mal stellte Kretschmann seine Verbundenheit mit den Überzeugungen der Glaubensgemeinschaften vor. Doch in einem Staat, in dem immer mehr Menschen ohne religiöses Bekenntnis sind, wäre es angebracht gewesen, die "Kernwerte" nicht allein dem religiösen Verdienst zuzuschreiben, sondern besonders auch den Anstrengungen der Aufklärung. Der Humanismus ist es, der heute die angesprochenen Ziele verfolgt - und das ohne die Anfälligkeit zu manch einem Extremismus. Denn sind es wahrlich das Christentum, das Judentum, der Islam, die den Zusammenhalt in unserem Land prägen?

Viel eher wohl die positiven Überzeugungen all derjenigen Menschen, die sich aus weltlichen Gründen dazu entschließen, friedlich, ehrlich und auch solidarisch zu leben. Waren es die Religionen, die zuerst da waren? Oder speisen sie sich nicht viel eher aus einer Ethik, die die frühen Menschen auch ganz ohne jenseitige Impulse entwickelten? Ein Miteinander auf Grundlage der Erkenntnis, dass wir dazu verpflichtet sind, unsere Erde gemeinsam zu bewohnen, brauchte den religiösen Anstrich nicht. Die spirituelle Zugabe mag unser Seelenheil erfüllen. Das ist legitim, aber begründet keine Ehrerbietung eines Ministerpräsidenten. Ausschließlich auf Religionen zu verweisen, die die Säulen unserer Gesellschaft sind, das ist für einen Politiker doch eher ein Armutszeugnis. Denn er verkennt damit offenbar ganz bewusst die Realität, auch in seinem Bundesland.

Der Austausch von Weltanschauungen ist sicherlich sinnvoll. Doch wie reflektiert kann dies geschehen, wenn man allein im Sumpf von normativen Dogmen fischt? Kretschmanns Rede gehört zu denen, die man nach kurzer Zeit zur Seite legen möchte, weil man diesen "Einheitsbrei" des Lobes an die Religionen nicht mehr hören und lesen kann. Es wirkt bevormundend, wenn ein Ministerpräsident von seinen Bürgern fordert, sie sollten sich an religiösen Werten orientieren. Von Religionsfreiheit hat der für seine konservative Haltung innerhalb seiner Partei bekannte Politiker anscheinend noch nicht allzu viel gehört. Und dass er in seiner Rede wohl eher die gottbezogenen Grundlagen der Landesverfassung als die Freiheiten des Grundgesetzes hochhält, ist bezeichnend in einer ganzen Reihe von Äußerungen, in denen sich Kretschmann wie ein Unterworfener der Religionen gibt.

Ohnehin wirkt der einst so beliebte Ministerpräsident seit Beginn der Amtszeit unter Grün-Schwarz wenig differenziert. Man kann kaum noch erkennen, wo "Grüne" und CDU ihre Grenzen ziehen, sich voneinander abgrenzen. Die christliche Nähe scheint Kretschmann nicht gut zu tun, nimmt sie ihm doch die Fähigkeit, ohne Einfluss zu denken - und auch zu entscheiden. Denn offenbar leitet der Ministerpräsident aus dem Religiösen zwingend auch einen Rutsch ins immer konservativer werdende Lager der "Bürgerlichkeit" ab, der aber nicht nötig wäre, würde Kretschmann sich nicht zum Getriebenen machen. Freiheit von den Religionen kann auch gleichzeitig Freiheit von Zwängen im Links-Rechts-Spektrum der Parteien bedeuten. Seine "Weltethos"-Rede hat den Ministerpräsidenten allerdings noch weiter zementiert - man wünscht sich die nächsten Wahlen schneller herbei, als es uns lieb gewesen wäre...