Erdoğans Okzidentalismus - Kampf gegen die Moderne

Thomas Tartsch am 21/03/2017 auf www.schlaglichter.at


Photo: Πρωθυπουργός της Ελλάδας (edited) via VisualHunt, CC BY-SA 2.0

Während der Westen sich in der Propagandafalle des türkischen Staatspräsidenten verfangen hat, der mit seinen absurden Nazi-Vergleichen die gewünschten Reaktionen erzielte, ist der Propagandaapparat der AKP schon viel weiter.

So kann man in sozialen Netzwerken in Postings seiner Anhänger immer öfter die Formel "Bu bir savaş. Hilal ve Haç arasındaki bir savaş" lesen (Dies ist ein Krieg. Ein Krieg zwischen Halbmond und Kreuz).

Damit wird das Narrativ vermittelt, der Gegner westlicher Regierungen sei nicht der türkische Staatspräsident, sondern der Westen verschwöre sich gegen türkische Muslime und den Islam. Diese Erzählung kann man seit 2016 vermehrt auch in türkischen Regierungsmedien hören und lesen.

Eine Erzählung, die jede einzelne Spannung mit den westlichen Nationen erklärt -einschließlich der jüngsten Krise zwischen der Türkei und den Niederlanden. Die AKP Medienmaschine sagt den Türken, der Westen sei nicht wirklich besorgt über den Autoritarismus von Recep Tayyip Erdoğan. Sondern, dass der Westen befürchte, dass die Türkei eine mächtige, unabhängige und tugendhafte Nation werde.

Das ist ein Indiz dafür, dass Erdoğan tatsächlich autoritär ist, weil er post-kemalistischen Nationalismus, Patriotismus und Erdoğanismus gleichsetzt. Und damit alle Erdoğan-Kritiker im Inland als Feinde der Nation betrachtet.

Ob die kemalistisch-sozialdemokratische CHP, die links-kurdische HDP, die kurdische PKK oder die religiöse Hizmet-Bewegung um Fethullah Gülen. Alle sind ‚Feinde des türkischen Volkes‘, die mit allen Mitteln bekämpft werden müssen.

Der Islam - oder genauer gesagt eine Art sunnitischer Islam in AKP-Auslegung in Verbindung mit post-kemalistischem Nationalismus als Synthese eines islamistischen Nationalismus - spielt dabei in der AKP-Ideologie eine große Rolle.

Der Westen ist damit nicht nur der Feind der türkischen Muslime und der islamischen Religion, sondern auch deren Antithese. Muslime sind moralische, ehrliche, anständige Menschen, während der Westen korrupt, entartet und heuchlerisch ist.

Antiwestliche Projektionen

Die AKP-Ideologie ist ein typischer Fall des ‚Okzidentalismus‘, der - genau wie sein Spiegelbild, der Orientalismus - eine ganze Zivilisation für seine eigenen Vorurteile und Ambitionen dämonisiert.

Der Begriff Okzidentalismus beschreibt kein reales ‚Abendland‘ sondern antiwestliche und antimodernistische Projektionen. Dieser mehrdimensionale und uneinheitlich definierte Begriff wurde primär durch Ian Buruma und Avishai Margalit unter dem Eindruck der Anschläge des 11. September 2001 geprägt.

Den Ausgangspunkt bilden dafür jedoch nicht Islamismus oder Salafi Dschihadismus, sondern, neben der deutschen Romantik, der antiwestliche japanische Nationalismus der 1930er-Jahre. Aber nicht nur nationalistische und militaristische Gruppierungen sahen im damaligen Japan ‚den Westen‘ als Feindbild, sondern auch viele marxistische Strömungen Japans.

In diesem gegen den Westen gerichteten Feindbild wird ‚der Westen‘ als ein homogenes Gebilde mit einer technizistischen Moderne gleichgesetzt und mit allen Zumutungen des Kapitalismus ebenso verbunden wie mit Liberalismus, Atheismus und - zumindest in einigen Fällen - Sozialismus und Kommunismus.

All dies ist eng mit einer schrankenlos gedachten Sexualität verbunden, die insbesondere die weibliche Sexualität (illustriert mit dem Bild der ‚Hure‘) als Bedrohung gesellschaftlicher Moralität und Stabilität sieht.

Diese angeblichen Auswüchse der auf Aufklärung, industrieller Revolution und politisch-säkularen Ideologien beruhenden Moderne werden als ‚anderes‘ manichäisch dem ‚eigenen‘ entgegengestellt.

Der Okzidentalismus dient zur Beschreibung des eigenen zur Abgrenzung des anderen, um Stereotype zu schärfen und Feindbilder zu konstruieren.

Die Muslimbruderschaft

Ein bekanntes Beispiel für islamistischen Okzidentalismus ist die Ideologie der arabisch-sunnitischen Muslimbruderschaft, die sich für die Errichtung einer Islamischen Ordnung (‚Nizam Islami‘) innerhalb des Rahmens der Scharia einsetzt.

Die Bruderschaft wendet sich gegen alles, was als ‚Verwestlichung‘ angesehen wird. Der Westen dient seit der Zeit des Kolonialismus als Feindbild und wird für den Niedergang der islamischen Welt verantwortlich gemacht.

Dies nicht zuletzt, weil die Muslimbruderschaft 1928 auch als nationalistische Reaktion auf die britische Kolonialherrschaft und den Einfluss Großbritanniens auf Ägypten gegründet wurde, der offiziell 1922, faktisch aber erst 1956 beendet wurde.

Auch der Okzidentalismus von Erdoğan setzt als Antithese das Feindbild Westen seiner eigenen Version einer autoritär regierten 2. türkischen Republik entgegen, die sich auf eine identitätsstiftende Ideologie aus politisch ausgerichteter Religion, post-kemalistischem Nationalismus, Patriotismus, Wirtschaftsliberalismus und Neo-Osmanismus gründet.

Erdogan führt die AKP als charismatischer Herrscher. Im Erdoğanismus bilden die Partei und Erdoğan eine Einheit, die Staat, Regierung und Gesellschaft nach eigenem Belieben designen kann.

Clash of Civilizations

Die aktuellen Warnungen von AKP-Seite vor kommenden Religionskriegen in Europa stilisieren den sich verschärfenden Konflikt zwischen Erdoğans Okzidentalismus und westlicher Wertegemeinschaft zu einem religiösen Clash of Civilizations hoch.

Die immer schriller werdenden Töne aus der Türkei überspielen die reale Schwächeposition des türkischen Staatspräsidenten
, der das Schicksal seiner politischen Existenz und den Nimbus der Unverwundbarkeit seiner Herrschaft an das anstehende Referendum gekoppelt hat, dessen Ausgang ungewiss ist.

Der Westen sollte sich dies verdeutlichen. Auf die Provokationen in gewünschter Weise zu reagieren, spielt dem Staatspräsidenten in die Hände. Europas Regierungen sollten daher auf die Provokationen mit Gelassenheit und Nichtbeachtung reagieren. Und eine rote Linie des ‚bis hierhin und nicht weiter‘ ziehen, deren Überschreitung entsprechende Sanktionen zur Folge hat.

Die dann gegebenenfalls auch folgen müssen: von einem generellen Auftrittsverbot für AKP-Politiker bis zu wirtschaftlichen Sanktionen, weil die liberalen Werte Europas nicht Toleranz um jeden Preis beinhalten.