Russland und die Türkei haben sich auf eine langfristige Kooperation
eingestellt, die eine regionale Kooperation vom Balkan bis nach Zentralasien
umfassen könnte. Die Zukunft liege im Osten. Der große Verlierer
könnten die USA und die EU werden.
RT Deutsch hat mit dem Generalleutnant
a. D. Talat Enwerowitsch Tschetin gesprochen, der an der Nationalen Sicherheitsakademie
in Russland tätig ist. Als russischer Staatsbürger türkischer
Herkunft gehört er zu den Mitgründern der Asiatischen Polizei-Organisation
für Kooperation, kurz ASIAPOL.
RT: Der russische Präsident Wladimir Putin ist vor einigen
Tagen in die Türkei gekommen, um die Turkish-Stream-Pipeline einzuweihen.
Welche Bedeutung spielt das bilaterale Projekt mit Russland für die türkische
Seite?
Tschetin: Putin gab bereits am 10. November beim Treffen
in Paris bekannt, dass er zur Feier anlässlich der Fertigstellung des maritimen
Teils des Pipeline-Projekts nach Istanbul kommen werde. Dieses aktuelle Energieprojekt
ist der Grundstein für zwei Entwicklungen, die für die Türkei
von großer Tragweite sind:
Erstens, über die regelmäßigen
Kontakte der alltäglichen politischen Themen und Entwicklungen hinaus haben
die strategischen Projekte wie TurkStream und das Atomkraftwerk im türkischen
Akkuyu die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen der Türkei und Russland
endgültig konsolidiert und garantieren sie wie Nietstahl. Das stärkt
den Glauben an eine Schicksalsgemeinschaft. Diese beiden strategischen Projekte
könnten die türkisch-russischen Beziehungen unzerstörbar machen
wie zwei Betonblöcke, die sich gegenseitig stützen.
Zweitens hört
die Türkei mit diesem Projekt auf, im Grunde ein energieabhängiges
Land zu sein. Künftig wird es am Profit Russlands auch als Partner beteiligt
werden.
RT: Wie könnte das Energieprojekt Turkish Stream
die russisch-türkischen Beziehungen langfristig verändern?
Tschetin:
Turkish Stream ist ein Win-Win-Projekt für beide Staaten. Es ist gewissermaßen
eine Sicherheitsgarantie für Moskau und Ankara, dass die Beziehungen nicht
mehr zusammenbrechen, wie wir das noch vor ein paar Jahren beobachten konnten,
als sich beide Staaten beinahe militärisch gegenüberstanden.
RT:
Turkish Stream soll auch dem Balkan zugute kommen. Gibt es schon eine genaue
Route?
Tschetin: Als man die South-Stream-Pipeline nach Bulgarien
bauen wollte, wurde sehr schnell deutlich, dass Bulgarien dem Druck der EU und
USA nicht standhält. Das sollte Bulgarien schnell bereuen und wollte schließlich
Teil von Turkish Stream werden. Auch von Präsident Erdoğan gab es eine
positive Botschaft bezüglich einer Erweiterung, die über den Balkan
nach Europa führen soll. Das Projekt wird der Türkei zweifelsohne
mehr Gewicht gegenüber Europa verleihen.
RT: Ist anzunehmen,
dass die Energiekooperation auch zu einer geopolitischen Annäherung auf
dem Balkan führen könnte?
Tschetin: Absolut, nicht nur
auf dem Balkan, sondern ebenso im Nahen Osten und in Zentralasien. Das muss
bei jeder Überlegung bedacht werden.
Zentral dabei ist, dass eine gleichberechtigte
Partnerschaft möglich ist. Beide Nationen befinden sich in ähnlichen
Lagen. Sie könnten gleichermaßen voneinander profitieren, aber auch
verlieren.
RT: Kann Russland angesichts angespannter Beziehungen
zum Westen und angeprangerter Doppelstandards dieser Staaten gegenüber
Ankara für die Türkei eine Alternative zum Westen sein?
Tschetin:
Russland ist keine Alternative für die Türkei. Um eine umfassende
Alternative zu kreieren, bedarf es einer türkischen Zusammenarbeit mit
dem gesamten "Osten". Eine aufrichtige Beziehung zwischen Russland,
Indien, China, dem Iran und der Türkei wäre eine echte Alternative
zum Westen.
Insbesondere die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit,
aber auch die Asiatische Polizei-Organisation für Kooperation, kurz ASIAPOL,
die ich mitbegründet habe, könnten zum Gegengewicht zur NATO werden,
die seit Jahrzehnten heuchlerisch gegenüber Ankara agiert.
RT:
Die USA haben noch immer nicht ihren Wunsch aufgegeben, die Türkei vom
Kauf des russischen Raketensystems S-400 abzubringen. Wird die Türkei dem
Druck widerstehen können?
Tschetin: Ankara hat mit größter
Aufrichtigkeit einen Kaufvertrag für das S-400 unterschrieben. Es hat bereits
Vorauszahlungen getätigt. Außerdem verspricht sich die Türkei
nach Auslieferung den Beginn von einer gemeinsamen Produktion mit Russland.
Eine Abkehr ist kein Thema mehr.
Es ist klar, dass sich dieses System gegen
den Westen richten wird. Es wird eine Regenschirm-Funktion gegen alle feindlichen
Gefahren einnehmen.
RT: Erdoğan möchte das Handelsvolumen
mit Russland auf 100 Milliarden US-Dollar steigern. Glauben Sie, dass das möglich
ist?
Tschetin: Die Türkei und Russland diskutieren diese
Entwicklung bereits seit 2013. Bis 2023, also dem hundertjährigem Bestehen
der Türkei, soll dieses Volumen erreicht werden. Das ist das Ziel. Im Weg
stehen die USA und Europa. Trotz dieser Gefahr ist eine solch hohe Zahl nicht
unrealistisch. Dabei müssen aber neue Wege gegangen werden. Insbesondere
müssen beide Nationen auf den Handel in Rubel und Lira umsatteln und damit
den US-Dollar umgehen. Nur so kann Sanktionen und Provokationen aus dem Westen
effektiv begegnet werden.
RT: In türkischen Schulen soll
künftig auch Russisch unterrichtet werden. Wie wichtig könnte diese
Basisförderung für die Beziehungen zu Russland und im Allgemeinen
für die eurasische Welt werden?
Tschetin: Das ist ein absolut
entscheidender Schritt. Die Türkei muss dringend umsatteln und in den Schulen
vermehrt Russisch und Chinesisch unterrichten. Das Licht geht im Osten auf,
und das muss auch die Türkei beherzigen, wenn sie nicht hinterherhinken
will.
RT: Vielen Dank für das Gespräch!