Zurück in die Zukunft - Wütendes Manifest

Aus https://www.jungewelt.de vom 19.6.2020

»Eine zornige Frau«: Algerische Feministin Wassyla Tamzali fordert von Europäerinnen mehr Solidarität im Kampf gegen Rollback im Maghreb

Wassyla Tamzalis Buch »Eine zornige Frau« ist ein engagiertes und zum Teil wütendes Manifest: Stimmen feministischer, fortschrittlicher Frauen aus der südlichen Hemisphäre wollten die Gesellschaften der europäischen Staaten nicht hören, sie förderten statt dessen konservative und reaktionäre Frauen, so die Autorin. Ihre Antwort auf die Frage, wie Frauen aus dem Maghreb und dem arabischen Raum überhaupt in Europa wahrgenommen werden, fällt bitter aus: Stigmatisiert würden sie, eine religiöse, muslimische Identität werde ihnen pauschal zugeschrieben – »unweigerlich in der Erinnerung an Kolonialismus und im leidenschaftlichen Dogmatismus des Islams verwurzelt«. Scharf kritisiert Tamzali europäische Medien. Ob in Talks europäischer Fernsehsender oder in Zeitungsberichten – nahezu überall werde das Klischee der Frau mit Kopftuch gepflegt: das der Muslima mit »angeeigneter Rhetorik des Feminismus«, jedoch stets als Inbegriff eines rückständigen Religionspathos. Dessen Vertreterinnen würden für Entscheidungen auf politischer Ebene herangezogen. Und – was die Autorin am meisten bedauert – selbst linksintellektuelle Zirkel der europäischen Frauenbewegung werteten solche Stimmen auf. In Deutschland sei es Anhängerinnen eines dogmatischen Islam gelungen, einen großen Teil der feministischen Szene für sich zu gewinnen. In Frankreich werde eine nationale Debatte zum Kopftuch geführt, statt aufgeklärte Frauen aus dem Magreb anzuhören. Während Europas Frauenbewegung für sich ökonomische, rechtliche, politische und gesellschaftliche Gleichstellung einfordere, gehe sie offenbar davon aus, dass im arabischen Kulturraum Frauen brav in mittelalterlichen Traditionen verharren sollten.

Dort mit dem Marxismus sympathisierenden Feministinnen gehe es aber um Demokratisierung und Laizismus – darum, sich der Dominanz des Maskulinen in zunehmend islamisierten Gesellschaften zu erwehren. Die Renaissance religiöser Ideologien führe zur Kaltstellung der Feministinnen der südlichen Hemisphäre. In Europa aber gebe es stets gerade »Dringenderes und Wichtigeres«, als deren Gleichberechtigung zu fördern.

Erfahrungswerte

Die Polemik, die sich durch Wassyla Tamzalis »Brief aus Algier an die in Europa lebenden Gleichgültigen« zieht, ist von erfrischender Klarheit. Am besten wäre ihr Ärger wohl in einer Umkehr der Darstellung nachzuvollziehen: Wenn Europäerinnen in den Maghreb reisen würden und feststellen müssten, dass dort folgendes Bild der deutschen Frau vorherrscht: streng katholisch in altertümlicher Tracht oder sich evangelikal ereifernd, die Unterwerfung der Frau predigend, gemäß den »drei K«: Kirche, Küche, Kinder. Wenn obendrein unsere Genossinnen im Maghreb europäische Emanzipationskämpfe der 1960er Jahre und andere feministische Bewegungen für null und nichtig erklärten: Wir würden es hassen.

Tamzalis Werk ist auch wegen ihrer profunden historischen Kenntnisse und feministischen Erfahrungswerte lesenswert. Die Autorin, 1941 in Algerien geboren, hat den französischen Kolonialismus, den algerischen Befreiungskampf sowie den islamistischen Fundamentalismus erlebt. 1979 war sie bei der UNESCO für Frauenrechte verantwortlich. Sie erinnert sich an die Freudentänze nach dem Sieg im algerischen Unabhängigkeitskampf 1962 mit »frei im Wind flatternden Haaren der jungen Mädchen«, an locker um die Hüfte gebundene weiße Schleier der älteren Frauen. Sie beschreibt, wie »das alte Bild der verschleierten Frau vom Lande, die zu Fuß ihrem Ehemann folgt, welcher bequem auf einem Maultier sitzt«, sich aufgelöst habe. Sie ruft ins Bewusstsein, wie tatkräftig Europäerinnen sich einst für ihre Genossinnen in Algerien eingesetzt hatten. Etwa als die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir die Verhaftung der Widerstandskämpferin des FLN (Front de Libération national) Djamila Boupacha öffentlich kritisierte. Damals, als diese 1960 nach ihrer Festnahme gefoltert wurde, weil die französische Armee sie eines Attentats verdächtigte. Zu Recht beklagt sie einen Mangel an Kampfgeist bei europäischen Feministinnen und deren Schweigen, wenn Frauen heute durch Polygamie entrechtet, von Sittenwächtern denunziert oder mittelalterlich gesteinigt werden – und wirft ihnen Geschichtsvergessenheit vor.

Geschenk an die Rechten

Zu kritisieren an dem Buch ist, dass Wassyla Tamzali meint, sich als Prostitutionsgegnerin beweisen zu müssen – und zwar völlig aus dem Zusammenhang gerissen. Sie weicht vom Thema ab, lässt ihr ansonsten schlüssiges Werk in den Bekenntniseifer eines unspezifischen Feminismuspamphlets münden. Dies lenkt ab von ihrer gut untermauerten Kritik an der europäischen Frauenrechtsbewegung, die unter dem Deckmantel der Diversität gewillt sei, Misogynie hinzunehmen.

Erkenntnisreich ist auch das Nachwort der 1980 geborenen Naïla Chikhi. Sie kritisiert die deutsche Bundesregierung: Statt eine fortschrittliche Migrationspolitik für die 2015 angekommenen Geflüchteten zu gestalten, seien letztere zum großen Teil religiösen Verbänden und Vereinen überlassen worden. Zugleich seien ständige Debatten über Kopftuch, Schächten und Moscheebau geführt worden. All dies betrachtet Chikhi zudem als »ein Geschenk an die Rechtsextremen«. Auch fragt sie, wieso linke Akteure, die sie stets als Verbündete betrachtet habe, im 21. Jahrhundert noch einen religiösen Ansatz befürworten könnten, den sie in der eigenen Gesellschaft erfolgreich bekämpft hätten. Islamisten seien keine verfolgte Minderheit, sondern eine international agierende und finanzstarke Gruppe. Doch selbst »grüne« Frauen hätten zu einer Konferenz eine Anhängerin der Muslimbrüder und des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan eingeladen, moniert Chikhi. Man muss nicht Chikhis Meinung teilen, dass weite Teile der Linken sich dem universalistischen Frauenkampf verschlössen und – womöglich aus Angst vor Vereinnahmung durch die AfD – konservativen Religionsfanatikern die Stange hielten. Aber warum nicht an Karl Marx anknüpfen, der die Religion als »Opium des Volks« bezeichnete und in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern (1844) forderte, »einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf«?