Siehe auch den Artikel "Grundlegende Kritik an Jehovas Zeugen ist berechtigt "
Die Psychologin und Sektenexpertin Dr. Regina Spiess wurde wegen kritischer Aussagen zur Gemeinschaft der Zeugen Jehovas von der Vereinigung Jehovas Zeugen der Schweiz angezeigt. In einem aufwendigen Verfahren, im dem umfangreiche Beweismittel geprüft wurden, wurde sie am 9. Juli 2019 vom Bezirksgericht Zürich in sämtlichen Anklagepunkten freigesprochen. Die Vereinigung Jehovas Zeugen der Schweiz hatte zunächst Berufung angemeldet, verzichtete aber schließlich darauf. Damit ist das Urteil rechtskräftig.
Sie bezeichnen in der Medienmitteilung das Urteil als wegweisend - weshalb?
Regina Spiess: Es ist wichtig für die Aufklärungsarbeit: Ein Gericht
hat meine Kritik an zentralen Punkten der Lehre der Zeugen Jehovas als rechtmäßig
beurteilt. Dieses Urteil deckt sich mit den Erkenntnissen anderer staatlicher
Institutionen, zum Beispiel der Royal Australian Commission, einer staatlichen
Kommission in Australien, welche zur Untersuchung sexuellen Kindesmissbrauchs
in Institutionen eingesetzt worden war. Das Urteil ist auch wichtig, weil die
Zeugen Jehovas weltweit versuchen, Kritiker*innen und Journalist*innen mit der
Androhung rechtlicher Schritte einzuschüchtern. Es macht deutlich, dass
es durchaus möglich ist, auch grundsätzliche berechtigte Kritik anzubringen.
Unser Verein berät dazu immer wieder Medienschaffende.
Schließlich wirft das Urteil auch Fragen auf im Zusammenhang mit der
Anerkennung der Zeugen Jehovas als Körperschaft des öffentlichen Rechts
in Deutschland.
Inwiefern?
Regina Spiess: Wenn sogar Kinder von Ächtung, einer Art von oben verordnetem Mobbing,
betroffen sind, kann es mit der Rechtstreue als Voraussetzung für die Körperschaftsanerkennung
nicht weit her sein. Und wenn Menschen den Glauben und die damit verbundene
Lebensweise nicht wechseln können, weil sie sonst ihre Familie verlieren,
verstößt das gegen grundlegende Rechte. Oder nehmen Sie die Situation
einer Frau, die dringend eine Bluttransfusion bräuchte. Akzeptiert sie
diese, gilt sie als "freiwillig" ausgetreten. Sie verlöre, sollte
sie nicht genesen und die Möglichkeit haben, vor einem Rechtskomitee zu
"bereuen", nicht nur ihre Hoffnung auf Errettung. Sie würde auch
ihre Liebsten zutiefst enttäuschen und womöglich geächtet und
alleine sterben. Ist es da nicht einfacher, in großem Ansehen zu gehen,
unter Zuspruch der Vertreter des sogenannten Krankenhausverbindungs-Komitees,
deren Aufgabe es ist, darüber zu wachen, dass sie keine Bluttransfusion
akzeptiert?
Informationen zur "Ächtung":
Getaufte Mitglieder der Zeugen Jehovas, die sich vom Glauben abwenden oder
gegen Vorschriften verstoßen, werden aus der Gemeinschaft ausgestoßen.
Andere Jehovas Zeugen dürfen mit ihnen keinen Kontakt mehr pflegen, sie
nicht einmal mehr grüßen. Das gilt auch für engste Angehörige.
Betroffene verlieren damit oft auf einen Schlag sämtliche Bezugspersonen,
auch die ganz nahen: Eltern, Kinder, Geschwister, Partner*innen, Großeltern
und Freund*innen. Geächtete Personen erfahren oft von Dritten von der Hochzeit,
der Geburt oder dem Tod nächster Angehöriger.
Heute werden Kinder oft schon mit 11 Jahren oder jünger getauft. Danach
können sie nicht mehr frei entscheiden, wie sie leben und woran sie glauben
möchten - weil sie sonst alle geliebten Menschen verlieren. (Quelle: jz.help)
Was sollte Ihrer Meinung nach politisch unternommen werden?
Regina Spiess:
Ächtung darf der Staat niemals dulden. Auch nicht gegenüber Erwachsenen.
Denn nur weil ein Kind volljährig ist, lieben sich Eltern und Kinder nicht
weniger und Großeltern hängen an ihren Enkelkindern und umgekehrt,
auch wenn sie theoretisch ohneeinander leben können.
Ächtung macht Mitglieder von religiösen Organisationen erpressbar:
Um meine Familie, meine Liebsten nicht zu verlieren, nehme ich fast alles in
Kauf. Erlaubt ein Staat Ächtung, toleriert er schwarze Löcher der
Rechtlosigkeit in einer Gesellschaft. Solange eine religiöse Organisation
wie die Zeugen Jehovas Ächtung anordnen kann, hat sie das Mittel, Grund-
und Menschenrechte ihrer Mitglieder zu unterlaufen. Plant sie das nicht, braucht
sie auch keine Ächtung.
Wie ist es möglich, dass der Körperschaftstatus trotz Ächtung
verliehen wurde?
Regina Spiess: Das Bundesverwaltungsgericht hat sehr tiefe Standards festgelegt, nur minderjährige
Kinder und Ehepartner dürfen nicht geächtet werden.
Das Zürcher Urteil hat nun jedoch bestätigt, worauf Kritiker*innen
schon lange hinweisen: Dass nämlich auch Kinder und Jugendliche Ächtung
erfahren. Indirekt sind Kinder ohnehin von Ächtung betroffen, es gibt ja
fast keine Familie ohne geächtete Mitglieder im näheren oder weiteren
Umfeld. Im August 2017 schockierte ein Video, in dem ein 10-jähriges Mädchen
auf einem Kongress erzählt, wie es seine größere Schwester ächtet.
Hunderttausende Zeugen-Jehovas-Kinder verlieren durch Ächtung ihre Geschwister.
Ächtung zerstört immer Beziehungen und Familien, auch wenn sie
"nur" bei Volljährigen ansetzt. Wie soll denn ein Kind zu einem
geächteten Vater normalen Kontakt haben, wenn dieser als Abtrünniger
für das Böse schlechthin steht?
Der Staat sollte also Ächtung beziehungsweise religiöses Mobbing
Ihrer Meinung nach verbieten?
Regina Spiess: Ja, unbedingt. Bei Mobbing in anderen Kontexten wird ja auch vorgegangen:
In der Schule, in Firmen oder in der Verwaltung. Im Gesetz wird Abhängigkeitsverhältnissen
Rechnung getragen. Das ist auch ein Grund, weshalb Arbeitgebende gegen Mobbing
vorgehen müssen. Bei all diesen Organisationen wird bedacht, dass es ein
Machtgefälle gibt und die Schwächeren geschützt werden müssen.
In religiösen Organisationen gibt es doch auch Abhängigkeiten …
Regina Spiess:
Ja, und oft in noch viel ausgeprägterem Maß. Zeugen-Jehovas-Eltern,
die ihr "abtrünniges" Kind nicht ächten, verlieren nicht
nur ihr soziales Standing in der Gemeinschaft - und außerhalb sollen sie
ja keine sozialen Kontakte pflegen -, sie gefährden laut der Lehre auch
die Errettung des Kindes. Ächtung wird bewusst als Form der Erpressung
eingesetzt. Wenn ein Kind infolge von Ächtung zurückkehrt, gibt es
wieder Hoffnung auf seine Errettung.
Wenn Abhängigkeiten in religiösen Organisationen so ausgeprägt
sind, fragt man sich, weshalb dem so wenig Beachtung geschenkt wird?
Regina Spiess:
Das hat damit zu tun, dass die Disziplinierung der Mitglieder immer auch
über religiöse Inhalte läuft und es lange bei allem, was religiös
gefärbt war, eine große politische und gesellschaftliche Scheu gab
- man will ja niemandem den Glauben verbieten. Im Zusammenhang mit den Missbrauchsskandalen
in religiösen Organisationen entsteht jedoch ein Bewusstsein dafür,
dass über Glauben in gewaltvoller Weise Macht ausgeübt werden kann,
gerade gegenüber Kindern. So stellte die australische Royal Commission
den Zusammenhang zwischen sexueller Gewalt gegen Kinder und der religiösen
Doktrin der Zeugen Jehovas heraus. Auch das Zürcher Gericht beurteilte
meine Kritik, dass Zeugen-Jehovas-Kinder verängstigt werden und religiöse
Vorgaben wie die sogenannte Zwei-Zeugen-Regel der Zeugen Jehovas sexuellen Missbrauch
begünstigen, als berechtigt.
Was ist Ihr Fazit nach diesem Urteil?
Regina Spiess: Es ist möglich, sich darüber zu verständigen, wo Glaube die
Angelegenheit eines und einer jeden sein soll und muss. Und wo wir als Gesellschaft
dafür einstehen müssen, dass Grund- und Menschenrechte für alle
gelten, auch für Mitglieder und ehemalige Mitglieder religiöser Gemeinschaften.