Das unerträgliche Schweigen des Papstes

Aus dem Standard vom 17. Mai 2010: Gerade der Fall Groër belege hinlänglich päpstliches Fehlverhalten im Umgang mit Missbrauchstätern, so Wolfgang Bergmann in einem offenen Brief an Kardinal Schönborn

Sehr geehrter Herr Kardinal, in letzter Zeit haben Sie mutige Worte gefunden: zur Schuld der Kirche in Missbrauchsfragen und - völlig neu - zur Schuld des Vatikans am Verhindern der Aufklärung im Fall Groër.
Aber warum sagen das nur Sie? Der Papst hat bisher nur "kleine" Priester sowie ein paar regionale Bischöfe gemaßregelt (Irlandbrief) und darüber hinaus zuletzt diffus von der Sünde in der Kirche gesprochen (Portugalreise). Warum also schweigt der Papst zur Verantwortung der Kurie und der Päpste? (Zu Ostern war das besonders unerträglich!)
Denn dem Bild, das Sie vermittels Ihrer zunehmend schärfer werdenden Anti-Sodano-Aussagen zeichnen, muss ich in einem wichtigen Punkt widersprechen: Wie nach der missglückten Ernennung von Gerhard Maria Wagner suggerieren Sie, dass Päpste alles richtig machen und demnach nur im organisatorischen Mittelbau des Vatikans ein paar Schnitzer passiert wären. Gerade die Causa Groër zeigt aber, gut dokumentiert, ein klares Fehlverhalten des damaligen Papstes!
Erinnern wird uns: 1995 wurde der Rücktritt Kardinal Groërs als Erzbischof offiziell nur aus Altersgründen angenommen. Der damalige Papst schrieb nach Österreich:
"Jüngst wart Ihr auch wegen der heftigen Angriffe gegen einige von Euch einer harten Prüfung ausgesetzt. Zuerst betraf es den verehrten Erzbischof von Wien, dann waren es andere Mitbrüder, die öffentlich angeklagt wurden, ohne dass ihrer menschlichen, geschweige denn ihrer kirchlichen Würde Rechnung getragen worden wäre. Angesichts dieses Eures Leidens haben sich viele Gläubige um Euch geschart und so jene Bande der kirchlichen Gemeinschaft gestärkt, die in der Familie einer jeden Diözese bestehen müssen. In diesem Augenblick der Prüfung ist Euch auch der Nachfolger Petri aus seiner Sorge um das Wohl aller über die Welt verstreuten Teilkirchen nahe und fühlt sich verpflichtet, Euch den Ausdruck seiner Solidarität zu bekunden und Euch seines inständigen Gebetes zu versichern." (Papst Johannes Paul II., 8. 9. 1995)

Die Wahrheit vertuscht
Bekommen Sie nicht auch eine Gänsehaut, wenn Sie das heute lesen? Kein Wort von den Opfern. Kein Wort der Entschuldigung, sondern Solidarität mit dem Täter. Belastend für den damaligen Papst: In seiner akribischen Dokumentation hat Hubertus Czernin (Das Buch Groër, Wien 1998) transparent gemacht, dass der Papst und die österreichischen Bischöfe bereits vor Annahme des Rücktritts Groërs im Sommer 1995 über ausreichende Informationen verfügten, die die Glaubwürdigkeit der Vorwürfe bestätigten. Diese Wahrheit wurde vom Papst niedergehalten.
Die Folge: Groër durfte weiter Ordensfunktionen ausüben und war bald mit neuerlichen Missbrauchsvorwürfen konfrontiert. 1998 erfolgte dann auf Bitte des damaligen Abtes eine außerordentliche Visitation im Stift Göttweig und damit erstmals auch eine kirchliche Untersuchung der klosterinternen Vorwürfe. Ein Ergebnis der Nachforschungen wurde allerdings nie bekanntgegeben. Groër lebte zurückgezogen, blieb aber bis zuletzt Kardinal.
Diese Praxis des Abwiegelns und Zudeckens hat leider System. Dieser Tage (1. 5. 2010) erklärte der Vatikan über den Ordensgründer (!) der jungen Kongregation Legionäre Christi: "Das sehr schwerwiegende und objektiv unmoralische Verhalten von Pater Maciel, das durch unbestreitbare Zeugenaussagen belegt ist, äußert sich bisweilen in Gestalt von wirklichen Straftaten und offenbart ein gewissenloses Leben ohne echte religiöse Gesinnung." - Immerhin ein klares Wort über den Täter (wie beim Irlandbrief), aber weiterhin keine Aussage darüber, wer so lange die schützende Hand über Maciel gehalten hatte. Denn diese Aussage erfolgt zwei Jahre nach dessen Tod, Jahrzehnte nach den ersten Vorwürfen. 2006 (also schon unter Benedikt XVI.) wurde wegen Maciels Alter und Krankheit auf ein kirchliches Verfahren verzichtet. Konsequenz war lediglich, wie bei Groër, der Rückzug aus der Öffentlichkeit.
Meinen Sie nicht auch, sehr geehrter Herr Kardinal, dass der Papst gut daran täte, eine von ihm unabhängige Untersuchungskommission einzusetzen, um zu klären, was alles beim gesamten Themenkomplex Missbrauch so lange falsch lief? Ohne diese Klärungen "ganz oben" gibt es, da werden Sie mir wohl zustimmen, keinen Neubeginn. Die Fälle Groër und Maciel (als zwei Beispiele von vielen) haben deutliche Parallelen, sie entstammen ein und demselben Sumpf, den es trockenzulegen gilt.
Das beharrliche Schweigen des jetzigen Papstes, diese unselige Groër-Methode der Problemverdrängung, hat vermutlich einen Grund - korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege -: Er müsste auch seine eigene Verantwortung benennen!
Warum bestätigt Benedikt XVI. bei Amtsantritt - wenn er wirklich im Vatikan "aufräumen" wollte - seinen Gegenspieler in der Causa Groër, Kardinal Sodano, zunächst als Kardinalstaatssekretär und dann im Amt des Kardinal-Dekans? Und welche Haltung wird sichtbar, wenn er noch 2004 in einem Interview (Aachener Zeitung, 24. 3. 2004) beklagt, dass Pädophilie mit falschen Reformvorstellungen nach dem Konzil einhergegangen sei? Also kurz gefasst: zu wenig Gebet und zu wenig Frömmigkeit - und schon wird man pädophil. Und das in Kenntnis des Groër-Gaus: fromm und konservativ und Missbrauchstäter! Missbrauch hat seinen Nährboden vielfach in überstrengen katholischen Erziehungsmilieus und einer verkorksten, kirchlich geprägten Sexualerziehung. Wer das nicht benennt, hat das Problem nicht verstanden.

Verantwortung geleugnet
Und wie steht es um die Tätigkeit Ratzingers in München? Bisher wurde erst ein Fall publik, für den der damalige Generalvikar die volle Verantwortung übernahm, weil er angeblich den damaligen Erzbischof über den Einsatz des betreffenden Priesters nicht informiert habe. In Kenntnis der Realität einer großen Diözese werden Sie mir sicher zustimmen, dass es gegen alle Wahrscheinlichkeit ist, wenn es zuträfe, dass es in der viereinhalbjährigen Amtszeit Ratzingers als Erzbischof von München nur einen Fall von sexuellem Missbrauch in dieser Diözese gegeben hat.
War damals in München wirklich alles anders? Oder müsste der Papst nicht Ihr Bekenntnis wiederholen, dass auch in seiner Zeit als Erzbischof mehr auf die Täter als auf die Opfer geachtet wurde?
Bleibt noch Ratzingers Verantwortung in seiner ehemaligen Funktion als Präfekt der Glaubenskongregation. War dessen Haltung tatsächlich immer so klar und konsequent, wie das jetzt suggeriert wird? Warum schweigt er zu einzelnen aufklärungsbedürftigen Punkten, wie beispielsweise zu jenem Brief aus dem Jahr 1985, mit dem er sich der Amtsenthebung eines pädophilen Priesters in Kalifornien widersetzte?

Gläubige im Stich gelassen
Für eine Institution, deren Kernbotschaft die Menschen zu Umkehr und Buße anhält, ist es völlig unverständlich, warum deren oberster Repräsentant die Verantwortung der Kirchenspitze nicht auch benennt. Es wäre dies keine Beschädigung des Amtes, sondern im Gegenteil ein erster Schritt zur Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit.
Katholiken werden immer darüber definiert, dass sie "mit dem Papst sind". Geht es in diesem Fall aber nicht darum, dass der Papst nicht "mit den Gläubigen ist" ? Derzeit werden die Gläubigen durch mangelnde Taten, fehlende Klarheit und beharrliches Schweigen im Stich gelassen. Wie lange ist das noch zumutbar? Und: Können Sie wirklich nichts dagegen tun?
Mit besten Grüßen, Ihr Wolfgang Bergmann

PS: Weil es gerade aktuell ist: Hätte sich Bischof Iby nicht Unterstützung verdient? Bitte, warten Sie mit öffentlichen Aussagen über Einsichten zum Thema Zölibat und Frauenpriestertum nicht auch bis zur Altersgrenze!

Zur Person: Wolfgang Bergmann, Jg. 1963, Magister der Theologie, war 1996-1999 Leiter der Öffentlichkeitsarbeit der Erzdiözese Wien und ist seit 2000 Standard-Geschäftsführer; einen ersten offenen Brief publizierte er an dieser Stelle am 3. 12. 2008 ("Obskure Argumente zum 'Sterben Europas'" ); sein Romanerstling "Die kleine Sünde" (Czernin-Verlag) befasst sich mit dem Thema Missbrauch in der Kirche.

Was ist zu erwarten? Schreibt jetzt der Herr Kardinal einen Leserbrief an den Standard und geht dabei Punkt für Punkt auf die Vorwürfe ein? Das wäre eine echte Sensation, weil sowas hat es noch nie gegeben.
Nein, man wird sauer auf den Briefschreiber sein und sich dem Schweigen widmen. Kirchenfürsten sind es nicht gewohnt, angebellt zu werden. Die hl. r.k. Kirche zu kritisieren, das hat es früher ja auch nicht gegeben, weil diese Kirche ist schließlich eine sakrosankte Einrichtung, die ein transzendentes Wesen auf der Erde hinterlassen hat. Dort können maximal hin und wieder Sünden durch einzelne Personen passieren, aber die Institution und ihr Oberhaupt halten sich für gottgesandt und daher kann man mit der Chefetage dieser Einrichtung nicht Auge in Auge verkehren. Oder gar Rechenschaft fordern. Dabei ist Wolfgang Bergmann vermutlich auch heute noch katholisch und kein böser Kirchenfresser.

Aber es ist gut so. Die Kirche macht das richtig. Der harte Kern der echten Gläubigen, die das im "apostolischen Glaubensbekenntnis" Vorgeschriebene wirklich ernst nehmen, diese Schafherde wird sich weiterhin fest um ihre Hirten scharen, beten, in die Kirche gehen, den Leib des HErrn verspeisen und Hallelujah singen. Die paar liberalen Kirchenreformer spielen im Kirchenvolk eine marginale Rolle (die "Laieninitiative" von Khol, Kohlmaier und Busek hat z.B. seit Jänner 2009 bis heute, 17.5.2010, lediglich 12.450 Unterstützungserklärungen sammeln können).
Die große Masse der Kirchenmitglieder besteht aus Taufscheinchristen. Religiös sind diese nicht feurig, sondern eher eisig. Ihr Hinwegschmelzen wird daher unter den heutigen Bedingungen immer wahrscheinlicher. Was sollen diese Menschen auch in diesem Verein? Sich darüber ärgern, dass sie für sowas Geld ausgeben? Die katholische Kirche kümmert sich um diese Leute, sie macht es richtig, sie motiviert sie zum Austritt.