Nurcan Ibrahimoglu ist 19, sportlich und hübsch. Vielleicht zu hübsch für
manche Männer in der türkischen Metropole Istanbul, wie sie jetzt am eigenen
Leib erfahren haben will. Die junge Frau war Ende Juli in einem städtischen
Bus auf dem Rückweg vom Volleyballtraining, als sie nach eigenen Angaben von
einem Passagier nicht nur beschimpft, sondern auch geschlagen wurde. Und zwar
wegen ihrer nackten Beine.
Ibrahimoglu, mit Shorts bekleidet, streckte
im Bus ihre vom Training müden Beine, wie sie der Zeitung "Radikal"
sagte. "Du streckst hier deine nackten Beine aus", habe ein Mann im
Bus gerufen. "Das ist gegen unsere Moral." Ibrahimoglu ließ das nicht
auf sich sitzen und nannte den Mann einen Rüpel. Darauf schlug er ihr mit der
Faust ins Gesicht, ihre Lippe platzte auf. "Niemand im Bus hat etwas gesagt",
berichtete sie geschockt. Im Gegenteil: Als sie ausstieg, um zur Polizei zu
gehen, hätten sogar einige Frauen in dem Bus dem Angreifer recht gegeben. Auch
die Polizisten seien nicht sehr erpicht darauf gewesen, den Vorfall aufzunehmen,
ein Arzt habe sich geweigert, die aufgeplatzte Lippe als Beweis für eine Gewaltanwendung
zu registrieren.
Ob Ibrahimoglu die Wahrheit sagt, weiß derzeit niemand,
der mutmaßliche Schläger wurde noch nicht gefunden. Dennoch macht der Fall in
regierungskritischen Medien der Türkei seit Tagen Schlagzeilen. Denn er symbolisiert
ein Gefühl, das sich seit dem erneuten Wahlsieg der religiös-konservativen Regierungspartei
AKP im Juni und erst recht seit der Entmachtung der Armee nach dem Rücktritt
des Generalstabs Ende Juli in säkulären Kreisen breit macht. Es ist das Gefühl
der Machtlosigkeit.
Türkische Säkularisten haben die fromm-islamische
Mehrheit des Landes schon immer als Gefahr gesehen - nur glaubten sie bisher,
sich im Ernstfall auf die Armee verlassen zu können, die seit 1960 schon vier
Regierungen gestürzt hat und den Islam als Gefahr für den Staat betrachtet.
Doch mit dem Schutz durch die Soldaten ist es vorbei, denkt so mancher Regierungsgegner.
"Jetzt hat Erdogan auch die Armee unter seiner Fuchtel", sagte ein
resignierter Regierungsgegner in Istanbul kürzlich über den frommen Ministerpräsidenten
in Ankara. Nun könne nichts mehr den islamistischen Vormarsch aufhalten.
Überall
sehen die Regierungskritiker neue Anzeichen für eine islamistische Offensive.
In Ostanatolien setzte es Schläge für eine Frau, die trotz des Fastenmonats
Ramadan eine Zigarette rauchte. Als ganz besonders gefährlich gilt der Artikel
des Theologieprofessors Harettin Karaman in der viel gelesenen regierungsnahen
Zeitung "Yeni Safak": Der Gelehrte legt nahe, dass wahre Muslime nicht
mit Ungäubigen - als Beispiele nennt er Schwule, Unverheiratete und Alkoholtrinker
- zusammen leben sollten. Karaman wolle ein Ghetto für alle Andersdenkende,
befürchten Kolumnisten in anderen Zeitungen nun.
Tatsächlich passt Karamans
Kommentar nicht so recht zum Bild einer offenen und modernen Demokratie. Die
Haltung gläubiger Muslime mit Blick auf Menschen, die muslimische Werte missachten,
könne nicht in Toleranz, sondern allenfalls in Duldung bestehen, schrieb er
in dem Beitrag. Nur wenn die islamische Leitkultur nicht durch "Einschreiten"
durchzusetzen sei und auch eine Trennung der Wohnorte unmöglich erscheine, bleibe
dem Muslim nichts anderes übrig, als die Zähne zusammenzubeißen.
"Super
gefährlich" seien Karamans Vorstellungen, erwiderte der Kolumnist Ahmet
Hakan in der "Hürriyet". Das beschriebene "Einschreiten"
könne als Aufruf zur Gewalt gegen alle interpretiert werden, die anders seien
als konservative Muslime. Karamans Ansichten stießen auch bei Gelehrten auf
Kritik. In der Zeitung "Vatan" sagte der Professor Saim Yeprem vom
staatlichen Religionsamt, alle Lebensstile müssten respektiert werden.
Allein
steht Karaman mit seinen Ansichten aber nicht. Erst kürzlich sagten 48 Prozent
der Teilnehmer einer repräsentativen Umfrage, sie lehnten Christen als Nachbarn
ab. Bei Juden lag die Ablehnungsrate bei 54 Prozent, bei Atheisten bei 64 Prozent
und bei Homosexuellen gar bei 84 Prozent. Auch sonst zeichnete die Befragung
das Bild eines sehr konservativen Landes. So bezeichneten es 61 Prozent als
Sünde, wenn sich Frauen am Strand im Badeanzug zeigen.
Allerdings wurden
in der Umfrage auch radikale islamische Vorstellungen abgelehnt: 54 Prozent
der Befragten wollten keinen Schariah-Anhänger als Nachbarn. Vertreter der Erdogan-Regierung
verweisen zudem darauf, dass die Türkei in fast neun Jahren der AKP-Herrschaft
demokratischer und freier geworden ist, und nicht islamistischer. Die endgültige
Entmachtung der Militärs vor wenigen Wochen war auch von regierungskritischen
Medien als Sieg für die Demokratie gewertet worden. Doch das Misstrauen gegen
Erdogan in einem Teil der türkischen Gesellschaft wächst weiter. Und Professor
Karaman sowie der unbekannte Schläger im Bus tragen nicht dazu bei, dieses Misstrauen
abzubauen.