Wenn der Vatikan die Beziehungen zu Staaten definiert, steht die Forderung nach Religionsfreiheit an erster Stelle. Gemeint ist damit meist nur das Recht der Kirche, nach eigenem Gutdünken schalten und walten zu dürfen, ohne dass sich der Staat in kirchliche Angelegenheiten einmischt - während sich die Kirche sehr wohl in staatliche Angelegenheiten einmischen will. In Wirklichkeit ist der Begriff "Religionsfreiheit" aber weit umfassender, als die Kirchen glauben machen wollen.
1. Religionsfreiheit ist ein Recht von Individuen und nicht von Organisationen
Originär
kann sich nur eine natürliche Person zu einem Glauben bekennen, erst danach
können sich Gleichgesinnte zu einer Gruppe zusammenschließen. Im
Grundgesetz ist die Glaubensfreiheit im Wesentlichen in den Grundrechtsartikeln
3 und 4 geregelt, die Belange der Religionsgesellschaften hingegen sind
erst in Artikel 140 angehängt. Im Extremfall kann eine Person ihr religiöses
Selbstbestimmungsrecht auch gegen die eigene Glaubensgemeinschaft zur Geltung
bringen.
2. Religionsfreiheit ist Meinungsfreiheit in einem speziellen Teilbereich
Erst
seitdem das Grundrecht auf Meinungsfreiheit in der Aufklärung postuliert
wurde, kam auch die Religionsfreiheit auf die Tagesordnung. "Ihre Meinung
ist das genaue Gegenteil der meinigen, aber ich werde alles daransetzen, dass
Sie Ihre Meinung sagen können", schrieb Voltaire einem Kontrahenten.
Gleiches hat für den Stellenwert weltanschaulicher Bekenntnisse zu gelten.
Implizit wird damit zugestanden, dass jede religiöse Überzeugung im
Diskurs mit Andersdenkenden eine persönliche Meinung, nicht aber eine bewiesene
Wahrheit ist. In der säkular gewordenen Gesellschaft wird diese Auffassung
heute allgemein geteilt; vor allem junge Menschen betrachten Religionen ganz
überwiegend als Systeme, die auf Vermutungen beruhen.
3. Religionsfreiheit ist definiert als Recht, sich zu einer Religion zu
bekennen
Auf diesen Kern beschränkt sich zumeist das Verständnis
der Religionsgemeinschaften. Er schließt auch das Recht ein, sich
im öffentlichen Raum zu äußern - soweit die Rechte anderer nicht
eingeschränkt werden, wie z.B. bei weltlichen Veranstaltungen an "stillen
Tagen". Die Grenze lässt sich am früheren und aktuellen Verhalten
der Zeugen Jehovas gut darstellen: Ihre Hausbesuche haben sie eingestellt, nun
präsentieren sie sich oft zu dritt mit Plakaten auf belebten Plätzen.
Ersteres ist unzulässige Belästigung, letzteres durch Meinungsfreiheit
gedeckt.
4. Religionsfreiheit schließt das Recht auf Wechsel der Religion
ein
Dieses wichtige Grundrecht ist in allen Menschenrechtserklärungen
verankert. Dagegen verstoßen aber nicht nur viele islamische Gemeinschaften,
sondern auch die katholische Kirche. Wer aus ihr austritt, erhält nicht
selten ein Schreiben der zuständigen Pfarrei, in dem auf die ewige Gültigkeit
der Taufe hingewiesen wird, aus der man gar nicht austreten könne. Der
säkulare Staat hat sich gegenüber dieser Position nur teilweise abgegrenzt:
Er schaffte ein Recht auf Kirchenaustritt, beschränkte es aber in seiner
Wirkung auf die Kirchensteuerpflicht. (Ein "Kirchenaustritt" ist also
- entgegen dem Wortlaut - gar kein Austritt aus der Glaubensgemeinschaft, sondern
nur aus der Kirchensteuerpflicht!)
Jedenfalls wird nun verständlich,
warum sich der Vatikan seit Jahrzehnten hartnäckig weigert, die Menschenrechtskonvention
des Europarats von 1950 zu unterzeichnen.
5. Religionsfreiheit schließt das Recht auf völligen Verzicht
auf Religion ein
Diese Selbstverständlichkeit erkennt die katholische
Kirche inzwischen an. Das Religionsverfassungsrecht spricht hier von einer gleichrangigen
"negativen Religionsfreiheit", die in Wirklichkeit aber kein separates
Rechtsgut ist, sondern Teil der einen Religionsfreiheit ist. Doch
gibt es z.B. im Umkreis der Piusbruderschaft Kleriker, die noch heute die Todesstrafe
für "Glaubensabtrünnige" fordern und damit einem erheblichen
Teil der islamischen Sunniten nicht nachstehen. Und auch Politiker unterschiedlicher
Parteien missachten in der Praxis die Religionsfreiheit nichtgläubiger
Menschen. So diffamiert der frühere Spitzenpolitiker der Linken, Gregor
Gysi, Gottlose regelmäßig als "moralfrei", und der niederbayerische
CSU-Bundestagshinterbänkler Irlstorfer beschimpft Konfessionslose als unmoralische
Existenzen, die noch schlimmer seien als Muslime.
6. Religionsfreiheit ist ein höchstpersönliches Recht, das auch
Kindern zusteht
Das Bewusstsein, dass auch Kinder unveräußerliche
Grundrechte haben, ist in unserer Gesellschaft noch nicht angekommen. In den
drei wichtigen Menschenrechtserklärungen Mitte des 20. Jahrhunderts (UN-Charta,
Artikel 1 bis 19 des Grundgesetzes, Menschenrechtskonvention des Europarats)
findet sich dazu nichts. Kinder galten lange Zeit als Eigentum der Eltern. Erst
mit der UN-Kinderrechtskonvention (verabschiedet 1989, in Kraft getreten 1995)
hat sich die Sichtweise etwas geändert. Selbstverständlich haben die
Eltern ein Erziehungsrecht, aber damit kein Monopol auf Erziehung, wie dies
z.B. die evangelikalen "besorgten Eltern" meinen. Kinder haben Anspruch
auf Informationen auch aus anderen Quellen: Durch den Schulunterricht dürfen
demokratische Werte vermittelt werden, die Gleichaltrigen ("peer group")
und die Medien werden Kinder später ebenfalls prägen.
In weltanschaulicher
Hinsicht dürfen Eltern also ihre Kinder durchaus beeinflussen. Die letzte
Entscheidung im Alter der Religionsmündigkeit muss aber bei den Kindern
liegen. Kinder zu taufen, solange sie noch nicht selbst entscheiden können,
ist demnach - streng genommen - ein Eingriff in deren Selbstbestimmungsrecht.
Man kann darüber diskutieren, ob eine Säuglingstaufe (als rein symbolisches
Ritual) eventuell noch hinnehmbar sei. Keinesfalls gilt dies aber für eine
daraus abgeleitete Kirchensteuerpflicht des religionsunmündigen Kleinkindes.
Da hat sich der Staat strikt herauszuhalten. Die Länder könnten ohne
kirchliche Zustimmung regeln, dass Kirchensteuer erst ab 14 oder 16 Jahren und
nur mit eigenhändig unterzeichneter Beitrittserklärung der betroffenen
religionsmündigen Person erhoben werden darf.
Fazit: Die Kirchen geben sich zwar gern als Hüterinnen der Glaubensfreiheit aus, doch erst mit der Umsetzung aller sechs genannten Teilaspekte gäbe es sie tatsächlich. Das liegt aber nicht im Interesse religiöser Organisationen, denn weltanschaulich autonome Jugendliche träten ihnen nur noch zu einem kleinen Teil bei.