Wenn die Leitkultur als Konzept bemüht wird, um ein gelingendes Zusammenleben
zu fördern, verhindern zwei Missverständnisse eine gelingende Diskussion.
Der Begriff Leitkultur bezeichnet kein Bündel an kulturellen
Phänotypen, Traditionen und identitätsstiftenden Merkmalen, die zusammen eine
Collage bilden, in der sich alle wiederfinden können.
Es geht nicht um breite, größtmögliche pluralistische
Abbildung, sondern – ganz im Gegenteil – um ein Minimum an Prinzipien und
Werten, die das Fundament einer Gesellschaft und auch Rechtsstaatlichkeit ausmachen.
So viel wie nötig, so wenig als möglich.
Die Debatte um diese Leitkultur wird immer wieder abgedreht
oder für beendet erklärt mit dem Argument, dass in Menschenrechten, Verfassungen,
Charta der Grundrechte usw. längst alles ausreichend normiert sei. Abgesehen
davon, dass wesentliche Eckpfeiler – wie Laizität – in den europäischen
Verfassungen schmerzlich fehlen, halten sich viele Staaten nicht an ihre eigenen
Spielregeln und schaffen Ausnahmen. Das passiert, in dem manchen Menschen und
Organisationen Freiheiten (sehr oft Religionsfreiheit) gewährt werden, die
mit (grund)gesetzlichen Bestimmungen nicht vereinbar sind.
In diesem Sinn ist auch der folgende Kommentar von mir zu lesen, der am 3. April
im Standard erschienen ist. Dort ein wenig gekürzt. Hier im Director’s Cut.
Leitkultur, eine Hausordnung für den Staat
Die ÖVP will über Leitkultur reden. Na gut, dann reden wir über Leitkultur.
Das Agenda Setting ist der Volkspartei gelungen. Aber das war’s dann auch
schon. Sei es aus Uninformiertheit oder als geplante Vernebelung – man könnte
auch sagen aus Dummheit oder Bosheit – macht die ÖVP aus einem diskussionswürdigen
konzeptionellen Ansatz ein Paninialbum aus Volksrock’n’roll und Schweinsschnitzel
mit Preiselbeeren.
Zugegebenermaßen ist der Begriff der Leitkultur auch wirklich schlecht gewählt,
weil er nahelegt, dass einer autochthonen Kultur die Funktion eines Leitbilds
angemessen wird, das als Maßstab für das Handeln herangezogen werden soll.
Eine Anleitung für individuelles Verhalten, die ein pflegliches Miteinander
ermöglichen soll. Der Begriff Leitkultur scheint einen Kulturpluralismus auf
Augenhöhe auszuschließen und eine bestimmte Kultur als Kokille zu fördern,
an die sich abweichende Kultur anzupassen hat. Dass dieser Prozess der Hierarchisierung
das vorherrschende Bild sein dürfte, legen auch jene nahe, die sich über den
Vorstoß der ÖVP (durchaus trefflich) lustig machen, aber gleichzeitig versuchen,
den Gedanken einer Leitkultur über das bloße Vorhandensein anderer Kulturen
auszubremsen, in dem sie brav auswendig aufsagen, was nicht alles schon Teil
unserer Kultur ist: vom Donut bis zum Döner, von Halloween bis Ramadan.
Kultur und Werte nicht deckungsgleich
Die Existenz einer polykulturellen und damit auch multimoralischen Gesellschaft
ist europäische Realität. Dazu braucht es übrigens keine Migration. Das Infragestellen
und die Abwendung von ideologisch geprägten Wertvorstellungen finden auch innerhalb
freiheitlicher Gesellschaften statt. Die mit ihr verbundenen Traditionen sind
aber nicht zwingend an die Werte gebunden. An der schwindenden religiösen Rückbindung
lässt sich das am ehesten festmachen: Das christlich-jüdische Erbe wird
von dem Drittel der Bevölkerung, das in Österreich konfessionsfrei ist, nicht
als primär identitätsstiftend wahrgenommen. Das bedeutet aber nicht, dass
sie auf dieses Erbe verzichten müssen. Die schönen Kirchen, die von unseren
urfachen Großeltern gebaut wurden, gehören uns allen, auch wenn wir uns persönlich
vom Glauben befreit und für das Wissen entschieden haben.
Ein unpassender Begriff
Die Wortwahl des deutschen Politologen Bassam Tibi wirkt aus heutiger Sicht
ein wenig überholt, wenn er von Multikulti und europäischer Identität spricht.
Das gilt auch für den Begriff der Leitkultur, den er in den 1990er Jahren in
die politische Debatte eingeführt hat. Er hätte seinem Konzept einen unmissverständlicheren
Namen geben sollen, etwa Kulturkern oder noch besser Wertekern, als Bündel
an Prinzipien, die wir unserer Gesellschaft unteilbar zugrunde legen. Wesentlich
ist naturgemäß, was er damit meint: “Zum inneren Frieden einer Gesellschaft
gehört die Akzeptanz einer Leitkultur, die Orientierung für ein demokratisches
Gemeinwesen bietet, dessen Angehörige unabhängig von ihrer Herkunft und Religion
säkulare Normen und Werte als Voraussetzung für den inneren Frieden teilen.
Gesellschaften, die Menschen aus unterschiedlichen Kulturen beherbergen, benötigen
mehr als andere eine Leitkultur.”[1]
Viel davon ist in der Erklärung der Menschenrechte und in diversen Grundgesetzen
abgebildet, aber offensichtlich reicht es in der Praxis nicht aus - auch weil
sich die europäischen Staaten in wesentlichen Punkten selbst nicht an ihre
Verfassungen halten.
Zutaten
Tibi empfiehlt: “Die Werte für die erwünschte Leitkultur müssen der
kulturellen Moderne entspringen, und sie heißen: Demokratie, Laizismus, Aufklärung,
Menschenrechte und Zivilgesellschaft.”[2]
Es ist kein Zufall, dass Religion einen guten Teil dieses Forderungskatalogs
blockiert, auch wenn viele die berechtigte Ansicht äußern, dass sie in der
Gesellschaft und Politik kaum mehr eine Rolle spielt. Das stimmt nur insoweit,
als es keinen direkten, also zwingenden Einfluss der Institutionen gibt, die
tatsächlich weitgehend, wenn auch nicht vollständig (insbesondere im Bildungsbereich)
getrennt sind. Das Versäumnis, zu Beginn des 20. Jahrhunderts und auch nach
dem zweiten Weltkrieg eine Feuermauer zwischen Ideologie und Politik einzuziehen
und stattdessen Ausnahmen im Widerspruch zu grundrechtlichen Bestimmungen zu
gewähren, multipliziert die multikulturellen Begehrlichkeiten. Staatliche Äquidistanz
zu Weltanschauungen wird in vielen europäischen Staaten dadurch geschaffen,
dass alle die gleichen Extrawürste kriegen sollen. Dieser Kulturrelativismus
funktioniert in der Praxis nicht, weshalb zur Basis einer im Konsens geteilten
Leitkultur für Tibi eben auch Laizität zählen muss. Der Staat darf einzelne
Weltanschauungen weder bevorzugen und noch benachteiligen, und nicht für jeden
Unsinn müssen Ausnahmen aus sonst allgemeingültigen Gesetzen geschaffen werden,
im Gegenteil: Der Staat muss auf die Einhaltung der basalen Spielregeln beharren.
Leitkultur, ob und wie
Eine Gesellschaft, die in ihren Weltanschauungen, Traditionen und Ausdrucksformen
immer vielseitiger wird, braucht tatsächlich so etwas wie einen Kulturkern,
ein Set an Grundregeln, die von allen akzeptiert werden.
Die Debatte, was dazu zählt, soll auch geführt werden und dabei sind zwei
Dinge separat zu klären. Erstens muss ein formaler Konsens über das Wesen
einer Leitkultur eines Wertekerns gefunden werden. Warum machen wir diese
Übung? Was bringt sie uns als Gesellschaft?
Wenn das akzeptiert ist, kann der zweite Teil diskutiert werden, welche Prinzipien
dieser Wertekern enthalten soll. Es besteht kein Grund, jene umstandslos anzunehmen,
die Bassam Tibi formuliert hat, aber sie bieten eine brauchbare Arbeitsgrundlage.
Wichtig ist auch festzuhalten, was nicht in die Definition einer Leitkultur
fällt: nämlich konkrete traditionelle Handlungen und kulturelle Ausdrucksformen.
Die können werden gegen die ausformulierten Prinzipien abgeglichen, die keine
bürgerlichen Handlungsanleitungen sind, sondern vielmehr eine Hausordnung für
den Staat an sich darstellen.
PS, um auf die ÖVP zurückzukommen: Diese Partei steht einer ordentlichen Trennung
von Republik und Religion seit je her im Weg. Als Schutzmacht religiöser Privilegien
ermöglicht vor allem die Volkspartei, dass Religion insgesamt und gesetzlich
anerkannte Religionsgesellschaften und ihre Mitglieder in Staat und Gesellschaft
weiterhin bevorzugt behandelt werden. Und was für die katholische Kirche würdig
und recht ist, können alle anderen genauso billig haben.
Solange dieser Zustand besteht, werden religiöse Traditionen die Oberhand gegenüber
den Werten einer aufgeklärten, freiheitlichen Demo-kratie behalten. Die Schranken
sind hier zu setzen.
Geburt einer Nation
Beim Thema Leitkultur muss der kulturell Interessierte natürlich an “One
Vision” von Queen denken. Von Martin Luther King inspiriert, von Laibach als
“Geburt einer Nation” brachial neu inszeniert.
[1] S. 163 Bassam Tibi. Europa Ohne Identitat? : Europaisierung Oder
Islamisierung. - Stuttgart, Ibidem-Verlag, 2016.
[2] S. 263 Bassam Tibi. Europa Ohne Identitat? : Europaisierung Oder Islamisierung.
Stuttgart, Ibidem-Verlag, 2016.