Der Papst, die Wahrheit und die Solidarität

Bei seinem ersten Auftritt auf seinem Deutschlandbesuch musste Papst Ratzinger natürlich die Grundlage seines Denkens propagieren, denn die Sache ist doch ganz klar: "Der Religion gegenüber erleben wir eine zunehmende Gleichgültigkeit in der Gesellschaft, die bei ihren Entscheidungen die Wahrheitsfrage eher als ein Hindernis ansieht und statt dessen Nützlichkeitserwägungen den Vorrang gibt." Somit gibt es nach Ratzingers Meinung eine "Wahrheitsfrage", die jenseits von Nützlichkeitserwägungen die Gesellschaft zu dominieren hätte. Die wahre Antwort weiß vermutlich alleine die katholische Lehre ...

Ratzinger bei seiner Begrüßungsrede

"Es bedarf aber für unser Zusammenleben einer verbindlichen Basis, sonst lebt jeder nur noch seinen Individualismus. Die Religion ist eine dieser Grundlagen für ein gelingendes Miteinander. Wie die Religion der Freiheit bedarf, so bedarf auch die Freiheit der Religion." Ratzingerische Schlussfolgerung somit: ohne Religion keine Freiheit.

Und: "Freiheit braucht die Rückbindung an eine höhere Instanz. Dass es Werte gibt, die durch nichts und niemand manipulierbar sind, ist die eigentliche Gewähr unserer Freiheit. Der Mensch, der sich dem Wahren und dem Guten verpflichtet weiß, wird dem sofort beipflichten: Freiheit entfaltet sich nur in der Verantwortung vor einem höheren Gut. Dieses Gut gibt es nur für alle gemeinsam; deshalb muss ich immer auch meine Mitmenschen im Blick haben. Freiheit kann nicht in Beziehungslosigkeit gelebt werden." Welche Werte werden das sein? Die Zehn Gebote? Dass man an einen Gott glauben muss? Dass man den Tag des HErrn heiligen muss? Das "höhere Gut", was ist das?

Er sagt es uns:
"Im menschlichen Miteinander geht Freiheit nicht ohne Solidarität. Was ich auf Kosten des anderen tue, ist keine Freiheit, sondern schuldhaftes Handeln, das den anderen und auch mich selbst beeinträchtigt. Wirklich frei entfalten kann ich mich nur, wenn ich meine Kräfte auch zum Wohl der Mitmenschen einsetze. Das gilt nicht nur für den Privatbereich, sondern auch für die Gesellschaft. Diese hat gemäß dem Subsidiaritätsprinzip den kleineren Strukturen ausreichend Raum zur Entfaltung zu geben und zugleich eine Stütze zu sein, damit sie einmal auf eigenen Beinen stehen können."

Laut Wikipedia versteht man unter Subsidiarität (von lat. "subsidium", dt. Hilfe, Reserve) "eine politische und gesellschaftliche Maxime, die Eigenverantwortung vor staatliches Handeln stellt. Danach sollen bei staatlichen Aufgaben zuerst und im Zweifel untergeordnete, lokale Glieder wie Stadt, Gemeinde oder Kommune für die Lösung und Umsetzung zuständig sein, während übergeordnete Glieder zurückzutreten haben."

Ratzingers Worte könnten somit entweder als Plädoyer für eine Rückkehr in die Vergangenheit verstanden werden, wo Bauern ihre Felder bestellten und Handwerker hölzerne Heuwagen bastelten, den Pferden Hufeisen verpassten, auf der Stör den Leuten Wamse und Stiefeln erstellten und die Hausfrauen spannen und webten. Oder er dachte sogar gegenwärtig und meinte damit die internationalen Konzerne. Das wird dabei auch eine Rolle gespielt haben, aber den Zusammenhang mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung, dem kapitalistischen Zwang zum Rationalisieren (Stichwort Karl Marx, Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate), der Konkurrenzlosigkeit des Kapitalismus wird der klapprige alte Mann dabei nicht im Auge gehabt haben. Weil sonst hätte er die "Solidarität" nicht miteinbezogen.

Denn die Solidarität ist nicht katholisch-subsidiarisch, sondern was ganz Linkes, siehe Bert Brecht und Ernst Busch, Solidaritätslied:

Der grenzenlosen Freiheit der Profitwirtschaft die Solidarität der arbeitenden Menschen gegenüberzustellen, das macht der Ratzinger natürlich nicht. Aber das macht auch sonst niemand mehr.