Zudem appellieren wir an Journalisten und Wissenschaftler, sich ihrer Verantwortung
bewusst zu werden und einer Verharmlosung dieser Verbrechen nicht weiter das
Wort zu reden. Hinter den Zahlenwerten diverser Studien, mit denen politisch
jongliert wird, verbergen sich menschliche Tragödien, die auf Nummern und Prozente
reduziert werden. Zwei dieser "bürokratisch-wissenschaftlichen Aktennotizen"
sind die nachfolgenden aktuellen Beispiele:
Die im neunten Monat schwangere Zorica H. (21) wurde im Februar dieses Jahres
von Harun A., der ein uneheliches Kind als Schande empfand, mit 165 Messerstichen
getötet. Bei der Beseitigung der "Schande" half ihm sein Komplize
Vedat, der die junge Frau festhielt, während der Täter zustach.
Die junge Kurdin Arzu Ö. wurde vor vier Wochen von ihrer eigenen Familie verschleppt.
Die Polizei geht davon aus, dass der Grund für die Entführung darin zu sehen
ist, dass Arzu einen deutschen Freund hatte, und dass sie wohl nicht mehr am
Leben ist. Arzus Vater hatte zuvor noch versucht, einen "passenden"
Ehemann für seine Tochter in der Türkei zu finden. Der Fall illustriert, auf
welche Art die Phänomene Ehrenmord und Zwangsheirat miteinander verwoben sind.
Die
kürzlich veröffentlichte Studie zur Zwangsheirat, die vom Bundesfamilienministerium
in Auftrag gegeben wurde, liefert alarmierende Zahlen. So sind 30 Prozent
der durch diese Studie ermittelten Betroffenen noch minderjährig. Der deutsche
Staat steht daher in der Pflicht, an den Schulen weitaus mehr Aufklärung und
Prävention zu leisten, als das bisher geschieht. Besonders Lehrkräfte sind für
diese Problematik entsprechend zu schulen und zu sensibilisieren, sodass im
Falle der drohenden Zwangsverheiratung einer Schülerin oder eines Schülers interveniert
und nicht weggeschaut wird.
Die Reaktion, die in Teilen der Presse
stattfindet, befremdet uns, da oftmals der Versuch unternommen wird, das Problem
kleinzureden, und der Eindruck erweckt wird, dass die Zahl der von Zwangsheirat
Betroffenen vernachlässigbar sei. So kommentiert Serap Cileli, Vorsitzende von
peri e.V.: "Es ist beschämend, wie die Wissenschaft und Politik an der
eigentlichen Fragestellung, der konkreten Hilfe für Betroffene, vorbeidiskutieren
und den Fokus auf Belanglosigkeiten lenken."
Die Studie geht
von 3.443 registrierten Fällen aus. Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher
sein, zumal auch ein nicht unerheblicher Teil der angeschriebenen Beratungsstellen
(615 von 1.445) überhaupt nicht geantwortet hat und die entsprechenden Zahlen
nun in der Studie nicht auftauchen. Aber völlig abgesehen davon muss man, wie
auch in vergleichbaren Fällen (Kindesmissbrauch, häusliche Gewalt etc.), realistischerweise
davon ausgehen, dass die Zahl der tatsächlich Betroffenen um ein Vielfaches
höher anzusetzen ist, als die Erfassung der bekannt gewordenen Fälle suggeriert.
Dass unter den 3443 Fällen Mehrfachnennungen auftauchen können, weil dieselbe
Person mehrere Beratungsstellen aufgesucht haben könnte, dürfte vor diesem Hintergrund
kaum ins Gewicht fallen.
Die Studie ergab außerdem, dass 83 % der
Betroffenen aus muslimischen Familien stammen und in 59,4 % die Familie stark
religiös geprägt ist. Dass es deswegen unter Wissenschaftlern und Journalisten
nun ebenfalls zu reflexhaften Abwehrreaktionen kommt, erscheint uns seltsam
und nicht nachvollziehbar. Der Verein Peri kann durch seine Jahre lange Praxisarbeit
bestätigen, dass Muslime die Bevölkerungsgruppe in Deutschland darstellen, die
am häufigsten von Zwangsheirat betroffen ist. In diesem Zusammenhang finden
wir es auch irritierend, dass ein Teil der an der Studie beteiligten Wissenschaftler
die Religionszugehörigkeit der Betroffenen am liebsten gar nicht erst ermittelt
hätte, wie das "Handelsblatt" berichtet. Welche Art von Wissenschaftlichkeit
soll das denn sein, wenn Religion als möglicher (!) Faktor von vorneherein in
der Betrachtung und Untersuchung ausgeschlossen wird? Kritiker der Bundesfamilienministerin
stoßen sich zudem auch an ihrer Forderung, dass "manche traditionelle Wurzeln
endgültig durchtrennt" werden müssten und befürchten dadurch eine Schürung
antimuslimischer Ressentiments.
Wir fragen: Was ist falsch daran,
die Aufgabe von solchen Traditionen einzufordern, die Zwangsheiraten überhaupt
erst ermöglichen oder begünstigen? Wer eine derartige Forderung schon für
ein "antimuslimisches Ressentiment" hält, der müsste ja im Grunde
selbst die Ansicht vertreten, dass Zwangsehen unverzichtbarer Bestandteil der
muslimischen Identität wären.
Offenbar ist es darüber hinaus vielen
Medien entgangen, dass es unter den Kritikern auch Wissenschaftler gibt, die
eine wohlwollende Haltung gegenüber der als islamistisch kritisierten Gülen-Bewegung
einnehmen. In solchen Fällen wäre es die Aufgabe von Journalisten, kritisch
zu hinterfragen, welche Motive hinter den Angriffen auf Ministerin Schröder
stecken. Auch scheinen nur wenige Medien zur Kenntnis genommen zu haben, dass
völlig unabhängig von der in der Öffentlichkeit hitzig diskutierten Zwangsheiratsstudie
des Bundesfamilienministeriums eine Studie der Leuphana Universität Lüneburg
existiert, die zu dem Schluss gelangt, dass "der Islam selbst eine Ursache
dieser patriarchalen Strukturen ist".
Peri e. V. fordert eine
Ächtung geschlechtsspezifischer Gewalt und eine ehrliche, offene Debatte über
die Ursachen. Mit Nachdruck weisen wir alle Versuche zurück, diese Verbrechen
zu relativieren oder zu instrumentalisieren. Die Bundesregierung ist aufgefordert,
Betroffene mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu schützen. Unangemessen
und unsachlich argumentierende Journalisten und Wissenschaftler sollten sich
die Frage stellen, ob sie ernsthaft glauben, dass mit ihrer Vorgehensweise jungen
Frauen wie Arzu geholfen wird.