Überlegungen zu Breivik

In den letzten Jahrzehnten hat es in ganz Europa sehr viel Zuwanderung gegeben, fast schon eine Völkerwanderung. In vielen Bereichen formte sich das gewohnte Bild um, die traditionellen Zusammensetzungen der Bevölkerungen wurden durch Zuwächse aus anderen Traditionen verändert, Parallelwelten entstanden. Die Politik sah meist keinen Grund, sich mit diesen Veränderungen zu befassen, diese waren sozusagen irgendwas zwischen zu erduldendem Schicksal und kultureller Bereicherung.

Viel zu spät reagierte man darauf und versuchte diese Veränderungen zu regulieren, zu organisieren, Probleme als solche wahrzunehmen und deren Bewältigung anzustreben. Was allerdings Fehlentwicklungen zumindest kurzfristig nicht mehr beheben kann.

Thilo Sarrazin thematisierte diese Probleme aus Sicht der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nützlichkeit in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" und wies auf die Entwicklung islamischer Parallelwelten infolge mangelnder Integrationsbereitschaft hin. Was zuerst einmal kurzerhand geleugnet wurde und dann doch zu politischen Reaktionen führte, auch der österreichische Staatssekretär für Integration ist eine Folge des Sarrazin-Buches. Man glaubte zuerst, Zuwanderer wären als "Gastarbeiter" eine vorübergehende Erscheinung, dann meinte man, durch die sinkenden Geburtenraten wären sie eine unabdingbare Notwendigkeit und darüber stülpte man den Slogan von der europäischen Multikulturalität.

In der indigenen Bevölkerung stieg trotzdem das Unbehagen. Rechtspopulisten errangen in verschiedenen Ländern erheblichen Einfluss, der eigentlich schon als überwunden angesehene Nationalismus feierte eine unerfreuliche Auferstehung, "multikulti" stellte sich als gescheitertes Projekt heraus.

Die Identifizierung mit der eigenen kulturellen Gruppe in einer verallgemeinerten Form ist eine Basissicherung gegen menschliche Unzulänglichkeiten. Ethnozentrismus in Form von Patriotismen, Nationalismen und anderen Gruppenidentitäten zur Sicherung des "Obens" der eigenen Gemeinschaft und damit der eigenen Identität und Person führt unter Umständen zu schrecklichen Ergebnissen.

Andererseits führt jedoch auch das Ignorieren, das Wegreden, das Verleugnen solcher psychischer Problemlagen zu großen Gefahren. Identität und Gemeinschaft gehören zu den Grundlagen unseres Seins. Wenn sich nun zunehmend immer mehr Menschen in der Situationen sehen, die eigene angestammte Identität und die gewohnte Gemeinschaft verlören an Bedeutung, würden nicht mehr gewürdigt, ja sogar missachtet, dann haben es ein Jörg Haider, ein HC Strache und so weiter nicht mehr sonderlich schwer, ihre politische Ernte einzufahren. Unsicherheit, Angst und das Gefühl des Bedeutungsverlustes, der Herabsetzung lassen sich kaum wegreden, aber relativ leicht verstärken. Rechtsextremisten traten nicht nur verbal, sondern auch mit terroristischer Gewalt in Erscheinung. Der bisherige grausige Höhepunkt auf diesem Gebiet ist der Norweger Anders Behring Breivik.

Breivik bei der Prozesseröffnung, er grüßte die Zuschauer im Gerichtssaal mit einem Griff ans Herz und mit ausgestreckter Faust

Breivik ist eine Folge des Versagens der europäischen Politik.
Er hat am 22. Juli 2011 im Osloer Regierungsviertel gebombt und dabei zufällig anwesende Leute verletzt und getötet, Breivik hat auf einer Urlaubsinsel auf Teilnehmer eines sozialdemokratischen Jugendlager geschossen, insgesamt gab es 77 Tote. Breivik gibt die Taten zu und sieht sie als Notwehr gegen die Islamisierung Norwegens.

Was wäre geschehen, wenn Breivik seine Untaten gezielt direkt gegen seine Hassobjekte gerichtet hätte? Also die Bomben nicht ins Regierungsviertel, sondern in eine Moschee platziert und das Gewehrfeuer auf islamisch aussehende Personen gerichtet, ja vielleicht sogar mit einem Selbstmordsprenggürtel an einem Freitagsgebet teilgenommen hätte?

Wie wäre dann das Echo in der Bevölkerung gewesen? Hätte es da nicht möglicherweise durchaus beträchtliche Zustimmung gegeben? Die Veränderungen durch Zuwanderungen haben den alten atavistischen Ethnozentrismus wiedererweckt, das Zusammengehörigkeitsgefühl in vorgeschichtlichen Sippen und Stämmen hatte seinerzeit große evolutionäre Bedeutung, hier "wir", dort die "anderen". Die individuelle Schwäche des Menschen benötigte zu ihrer Überwindung Formen kollektiver Kulturbildungen, die über die Rudelbildungen im Tierreich hinausgingen. Der Ethnologe Claude Levi-Strauß hat dazu den "Ethnozentriker" als Angehörigen "einer bestimmten ethnischen Gruppe die für diese eigentümliche Lebensweise für die bestmögliche und ihre Mitglieder als die besten aller Menschen betrachtet", definiert.

Wenn nun solche "Ethnozentriker" in einer staatlichen Gemeinschaft aufeinander treffen, also zum Beispiel Anhänger des christlichen Abendlandes und Anhänger des muslimischen Morgenlandes, dann kann sich daraus offenbar auch ein Anders Behring Breivik ergeben, er sieht sich als Kreuzzügler, als Tempelritter, er ist das Gegenstück des Taliban. Der Letztere hat seine Position ebenfalls so erworben: seine Welt war ihm als von der westlichen Moderne bedroht erschienen und er griff zur Schusswaffe und zur Bombe. Breivik sah sein christliches Europa bedroht und griff zur Schusswaffe und zur Bombe.

mit tatbewusstem Gesicht hört Breivnik die Anklage, er fühlt sich als bedeutend

Für uns Atheisten muss es weiterhin klar bleiben: ethnische Konflikte und Religionskritik können Berührungspunkte haben. Aber wir dürfen uns auch von einem Narren wie Breivik, der durchaus in der Lage gewesen wäre, mit einer zielgerichteteren Ausrichtung seiner Massenmorde in manchen Kreisen ein merkbar positiveres Echo zu erreichen, nicht davon abhalten lassen, religiöse Weltanschauungen zu kritisieren.

Weil auch ein Terrorist wie Breivik macht die islamische Lehre zu keiner humanistischen Weltinterpretation. Und vor allem: das säkulare Europa ist eine historische Errungenschaft, die keine kulturelle Ergänzung aus vormodernistischen Bereichen braucht, also weder allgemein gesehen ein Abendland in Christenhand mit muslimischen Parallelwelten, noch im Speziellen Tempelritter und Taliban. Im Säkularismus liegt auch die Bewältigung ethnozentristischer Konflikte, weil im Säkularismus ist Religion Privatsache und keine Religion soll daher die Rolle eines Staates im Staate spielen.