DDR-Gottlosigkeit christlich betrachtet

Eine US-Untersuchung hat jüngst erbracht, dass das Gebiet der ehemaligen DDR weltweit das religionsfreieste Land ist, nur rund acht Prozent glaubten dort an einen "persönlichen Gott", also nicht an irgendein unbestimmtes "höheres Wesen" oder "Prinzip", sondern an Jesus, Allah oder Teutates, 46 Prozent bezeichneten sich als Atheisten. Seinerzeit in der DDR hatte es immer wieder Kampagnen gegeben, auf irgendwelchen Gebieten zur "Weltspitze" zu gehören. Gelungen ist dies mittels heute eher nicht mehr zugelassener Methoden im Sportbereich und mit anhaltender Wirkung in Bezug auf die Religionsfreiheit.

Diese Religionsfreiheit als Freiheit von Religion ist klarerweise den religiösen Predigern und Funktionären ein Dorn im Auge. Nach dem Konkurs der DDR 1989 hechelte man danach, dort endlich wieder wirkungsvoll das Wort Gottes verkünden zu können und erwartete sich ganz ernsthaft, dass die ehemaligen DDR-Bürger mit Begeisterung wieder religiös würden. Sie wurden es nicht, sondern im Gegenteil: die Religiösen wurden immer weniger und sie werden es heute noch.

Auf der Site idea.de wurden deshalb zur Glaubensstudie "Sagt Luthers Heimat Gott ade?" (23.4.2012) mehrere Fachleute befragt. Es ist nicht uninteressant, daraus zu zitieren.

Der frühere Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, Axel Noack, meinte dazu, einerseits wären zurzeit der noch offenen DDR-Grenzen (bis 1961) hauptsächlich bürgerliche Kreise in den Westen geflüchtet und damit auch die "kirchentragenden Schichten". Für die anhaltende Religionslosigkeit seien nicht die Kirchenaustritte ausschlaggebend, sondern der "Grund waren vielmehr die Eltern, die ihre Kinder nicht mehr taufen ließen und sie nicht zum kirchlichen Unterricht und zur Konfirmation geschickt haben, sondern stattdessen zur Jugendweihe." Die Leute wären überdies keine radikalen Atheisten, "die meisten Menschen sind vielmehr am christlichen Glauben nicht interessiert. Sie haben sich nie damit beschäftigt."

Da hat er sicherlich recht! Genau wie bei uns:
auch die Kirchen im Westen erleben das stetig fortschreitend, die familiären Religionstraditionen verschwinden, die Kinder werden nicht schon im Vorschulalter religiös konditioniert, jedoch nicht aus Antiklerikalismus, sondern aus Interesselosigkeit. Religionen erfüllen keine Bedürfnisse. Das ist das Schlimmste, was ihnen passieren kann, ohne Nachfrage hängt das Angebot in der Luft, das ist irgendwie so ähnlich, wie dass im Zeitalter der Digitalkameras die Verwendung alter Fotoapparate für Kleinbildfilm immer mehr zurückgeht. Die Firma Kodak, einst weltgrößter Produzent von Filmmaterial, stellte im Februar 2012 Konkursantrag. Bis die christlichen Kirchen auch so weit sind, wird es noch eine Weile dauern.

Ähnlich wie Noack äußerte sich auch der Theologieprofessor Johannes Berthold, er weist darauf hin, dass ein Großteil der Bürger schon in zweiter und dritter Generation in konfessionslosen Familien groß geworden sei: "In ihnen wird nicht von Gott gesprochen. Sie haben ihn schlicht vergessen." Darum fehle auch jegliches religiöse Grundwissen. Dass dieses Grundwissen von den Leuten offenbar in keiner Weise vermisst wird, fiel dem Professor anscheinend nicht auf. Papst Ratzinger redet häufig von den Menschen, die nach Religion suchten. In der Ex-DDR suchen die Menschen nicht. Weil ihnen nichts fehlt. Das lässt sich als Gesamtergebnis feststellen.

Berthold weiters: Viele Familien hätten die eigene Konfessionslosigkeit als Identität so verinnerlicht, "dass sie zum Bekenntnis geworden ist." Andererseits sieht er als Ursache dafür, dass in katholischen und orthodoxen Gebieten des ehemaligen Ostblocks die Religionslosigkeit weniger oder gar nicht verbreitet sei, darin, dass die protestantischen Kirchen "elementare Bedürfnis nach Spiritualität" nicht ausreichend befriedigten, Bilder und Rituale kämen solchen Bedürfnissen entgegen, der "Kirche des Kultus gelingt das offenbar besser als der Kirche des Wortes". Da ist vielleicht ein bisschen was Wahres dran, das Elementare ist allerdings, dass die katholische Kirche wie die Orthodoxie an ihr Publikum mehr Ansprüche stellt und darum vorhandene religiöse Traditionen sich weniger schnell in Beliebigkeit auflösen, die protestantischen Kirchen in Deutschland stehen von ihren Traditionen her dem Säkularismus viel näher.

Eine recht verquere Argumentation lieferte ein Pastor Reinhard Holmer aus Elbingerode, er übernahm die Anschauungen von Papst Ratzinger und sprach ebenfalls vom Atheismus des Nationalsozialismus. Dabei hatte gerade die evangelische Kirche ein ausgesprochenes Naheverhältnis zum NS-System, man baute sogar eine "Reichskirche" mit einem "Reichsbischof" auf! Seine Behauptung, die nationalsozialistische Ideologie wäre stark atheistisch gefärbt gewesen, ist purer Umsinn. Es gab allerdings eine NS-Religion als Konkurrenz. Nazis, die aus den Kirchen austraten, bekamen amtlich den Status "gottgläubig"! Die bis Kriegsende nicht fertig ausgeformte NS-Religion war eine Art Pantheismus, der sich an Jahreszeiten und Familienfesten orientierte, also an Sonnenwenden, Frühlingserwachen, Erntedank, Geburten, Hochzeiten, Tod, atheistisch war daran nichts. Der Pastor meint weiters, nach 1945 hätte es in manchen Regionen des sowjetischen Besatzungszone wenig geistliches Leben gegeben, dadurch wäre man auf den "Angriff des Kommunismus" geistlich nicht vorbereitet gewesen.

Zusammenfassend: Auf dem Gebiet der DDR hat sozusagen ein Großfeldversuch "religionsfrei leben" stattgefunden und das Ergebnis gebracht: es lässt sich ohne Verluste religionsfrei leben. Das entstammte nicht der sozialistischen Planwirtschaft der DDR, das war ein Ergebnis aus mehreren Komponenten: die im Vergleich zum Katholizismus liberalere Haltung im Protestantismus, die freidenkerischen Traditionen der Arbeiterbewegung, die Sicherung der Grundversorgung im Realsozialismus, das ließ die religiösen Bedürfnisse schmelzen. Statt zum Jesus zu beten, ging man in die ärztliche Ambulanz oder wandte sich an den Parteisekretär. Die DDR war streng geregelt, strenger als die katholische Kirche: aber säkular. "Es rettet uns kein höh'res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun .." Ein höheres Wesen war zur Rettung weder vorgesehen, noch gab's einen Bedarf dafür. Das blieb so und hat sich 1989 weiter in diese Richtung entwickelt.

Frei von Religion zu sein, ist nicht nur ein Menschenrecht, sondern eine extrem vernünftige Art zu leben. Die Menschen in der Ex-DDR haben das in der Praxis im Langzeitversuch sehr überzeugend bewiesen.

Nachtrag:
Auf einem Kolloqium "Deutsche Einheit und katholische Kirche" sagte der Erfurter Theologieprofessor Eberhard Tiefensee: "Wenn Ostdeutschland nun Missionsland ist, dann trifft christliche Verkündung erstmalig nicht auf andere Religionen, sondern auf ein stabiles areligiöses Milieu. Dieses Milieu habe sich als hochresistent für Missionsbewegungen aller Art erwiesen."
Ist das nicht schön?