In Österreich erleben wir im Moment, wie Religionsfreiheit in ihrem eigentlichen Sinn gedreht und nach Strich und Faden von den Religionsgesellschaften argumentativ missbraucht wird.
Historisch wurde die Freiheit, ein religiöses Bekenntnis anzunehmen, abzulegen
oder auszuleben, gegen den Widerstand der herrschenden Religionen erkämpft.
Echte
individuelle Religionsfreiheit als Grundrecht ist vor allem ein Verdienst aufklärerischer
Kräfte. Es kommt hauptsächlich jenen zugute, die eben nicht Teil der religiösen
Mehrheitsgesellschaft sind und sich durch gesetzliche Anerkennung ohnehin in
einem privilegierten Sonderstatus befinden.
Im Zuge der Beschneidungsdebatte formierte sich eine ungewöhnliche Allianz
von Vertretern dieser staatlich bevorzugten Bekenntnisse. Zur Verteidigung
ihrer religiösen Privilegien deuten sie die individuelle Religionsfreiheit kurzerhand
zu einem Freibrief der Religionsgesellschaften um, der jede Kritik an ihren
Praktiken verunmöglichen soll. Im Namen der Religionsfreiheit sollen "Jahrtausende"-alte
Traditionen, die mit den Grundrechten ganz offensichtlich kollidieren, diskussionslos
legalisiert werden. Die öffentliche Debatte wäre einzustellen, weil Katholiken,
Juden, Muslime und Protestanten es so wünschen.
Träger der Religionsfreiheit
ist aber primär das Individuum und nicht die Institution. Die Religionsfreiheit
des konfessionsfrei geborenen Kindes ist selbstverständlich höher zu bewerten
als die religiöse Behandlung durch seine Eltern. Dass Eltern ihre Kinder nach
ihrem Bekenntnis religiös erziehen dürfen und zum Wohl des Kindes an seiner
Stelle Entscheidungen treffen müssen, ist selbstverständlich. Eine Erziehung
ohne prägende Einflüsse egal welcher Natur ist weder möglich noch wünschenswert,
aber es gibt Grenzen und Bereiche, wo diese Entscheidungen zumindest fragwürdig
sind.
Die Beschneidung, eine immerhin medizinisch nicht notwendige Teilamputation,
als Erziehungsmaßnahme im Kindeswohl zu bezeichnen ist nach medizinischem Ermessen
mehr als abenteuerlich. Wenn dieser Eingriff auf einen Zeitpunkt verschoben
wird, wo der Mann seine Zustimmung - im Idealfall ohne gesellschaftlichen Druck
- geben kann, würde dies das Elternrecht auf religiöse Erziehung nicht einschränken
und zu einem freiwilligen Bekenntnis führen. Doch genau davor haben die Fundamentalisten,
die sich auf die Nichtänderbarkeit von religiösen Gesetzen berufen, Angst. Dabei
vergessen sie aber, dass sie diese Gesetze ja selbst erfunden haben!
Fundamentalisten
wollen die religiöse Prägung und Markierung in einem möglichst frühen Alter
mit Gewalt durchsetzen und würgen die sachliche Diskussion - und ein Gerichtsurteil
ist eine sachliche Erörterung - mit Rückgriff, Vereinnahmung und Verdrehung
der Religionsfreiheit ab.
Religion muss es heutzutage aushalten, auch
inhaltlich kritisiert zu werden, und wenn eine freiwillige Überprüfung der
Beschneidung in dem Fall medizinischen Studien und juristischen Gutachten standhält,
können Juden und Muslime davon nur profitieren.
Stattdessen begegnen sie Kritikern pauschal mit Unterstellungen und Hohn: Daniel Kapp setzt die Kritiker etwa mit Nazi-Richter Roland Freisler gleich. Fuat Sanaç meinte überdies, dass jene, die mit ihrer Zwangsbeschneidung nicht glücklich sind, "zum Psychiater gehen sollen", denn Beschneidung sei "wie Fingernägel schneiden". Der Mathematik-Experte für Religiöses, Rudolf Taschner, sieht in den Kritikern "Antisemiten reinsten Wassers". (Anm.: siehe dazu die Taschner-PDF)
Wie sieht es auf politischer Ebene aus? Die erwartbare Reaktion wäre gewesen
festzustellen, ob hier ein Problem vorliegt und wie es gelöst werden kann.
Stattdessen wurde mit der gleichen pervertierten Auffassung von Religionsfreiheit
die Kritik in Deutschland ("Komikernation" © Merkel) vom Tisch gefegt.
Die
typische Feigheit der österreichischen Berufspolitiker, sich besser gar nicht
zu äußern, hat in dem Fall auch ein Gutes: Es besteht noch die Chance, die Diskussion
nicht weiter eskalieren zu lassen und auf ein lösbares Format zu bringen. Es
scheint sich auf allen Seiten zumindest ein Konsens durchzusetzen, dass es verschiedene
Auffassungen über die Religionsfreiheit, medizinische Erkenntnisse und juristische
Beurteilungen gibt.
Politik sollte an eine Entscheidung, wie mit Beschneidung
umzugehen ist, jedenfalls evidenzbasiert herangehen und nicht vorschnell die
Propaganda der institutionellen Religion vollziehen.