Die Vergewaltigung der Religionsfreiheit

Gastkommentar von Niko Alm, Vorsitzender des Zentralrates der Konfessionsfreien, am 30. Juli 2012 im STANDARD

Wir brauchen eine evidenzbasierte Politik in der Beschneidungsdebatte

In Österreich erleben wir im Moment, wie Religionsfreiheit in ihrem eigentlichen Sinn gedreht und nach Strich und Faden von den Religionsgesellschaften argumentativ missbraucht wird.

Historisch wurde die Freiheit, ein religiöses Bekenntnis anzunehmen, abzulegen oder auszuleben, gegen den Widerstand der herrschenden Religionen erkämpft.

Echte individuelle Religionsfreiheit als Grundrecht ist vor allem ein Verdienst aufklärerischer Kräfte. Es kommt hauptsächlich jenen zugute, die eben nicht Teil der religiösen Mehrheitsgesellschaft sind und sich durch gesetzliche Anerkennung ohnehin in einem privilegierten Sonderstatus befinden.

Ungewöhnliche Allianzen

Im Zuge der Beschneidungsdebatte formierte sich eine ungewöhnliche Allianz von Vertretern dieser staatlich bevorzugten Bekenntnisse. Zur Verteidigung ihrer religiösen Privilegien deuten sie die individuelle Religionsfreiheit kurzerhand zu einem Freibrief der Religionsgesellschaften um, der jede Kritik an ihren Praktiken verunmöglichen soll. Im Namen der Religionsfreiheit sollen "Jahrtausende"-alte Traditionen, die mit den Grundrechten ganz offensichtlich kollidieren, diskussionslos legalisiert werden. Die öffentliche Debatte wäre einzustellen, weil Katholiken, Juden, Muslime und Protestanten es so wünschen.

Träger der Religionsfreiheit ist aber primär das Individuum und nicht die Institution. Die Religionsfreiheit des konfessionsfrei geborenen Kindes ist selbstverständlich höher zu bewerten als die religiöse Behandlung durch seine Eltern. Dass Eltern ihre Kinder nach ihrem Bekenntnis religiös erziehen dürfen und zum Wohl des Kindes an seiner Stelle Entscheidungen treffen müssen, ist selbstverständlich. Eine Erziehung ohne prägende Einflüsse egal welcher Natur ist weder möglich noch wünschenswert, aber es gibt Grenzen und Bereiche, wo diese Entscheidungen zumindest fragwürdig sind.

Verdrehung der Religionsfreiheit

Die Beschneidung, eine immerhin medizinisch nicht notwendige Teilamputation, als Erziehungsmaßnahme im Kindeswohl zu bezeichnen ist nach medizinischem Ermessen mehr als abenteuerlich. Wenn dieser Eingriff auf einen Zeitpunkt verschoben wird, wo der Mann seine Zustimmung - im Idealfall ohne gesellschaftlichen Druck - geben kann, würde dies das Elternrecht auf religiöse Erziehung nicht einschränken und zu einem freiwilligen Bekenntnis führen. Doch genau davor haben die Fundamentalisten, die sich auf die Nichtänderbarkeit von religiösen Gesetzen berufen, Angst. Dabei vergessen sie aber, dass sie diese Gesetze ja selbst erfunden haben!

Fundamentalisten wollen die religiöse Prägung und Markierung in einem möglichst frühen Alter mit Gewalt durchsetzen und würgen die sachliche Diskussion - und ein Gerichtsurteil ist eine sachliche Erörterung - mit Rückgriff, Vereinnahmung und Verdrehung der Religionsfreiheit ab.

Religion muss es heutzutage aushalten, auch inhaltlich kritisiert zu werden, und wenn eine freiwillige Überprüfung der Beschneidung in dem Fall medizinischen Studien und juristischen Gutachten standhält, können Juden und Muslime davon nur profitieren.

Pauschalurteile

Stattdessen begegnen sie Kritikern pauschal mit Unterstellungen und Hohn: Daniel Kapp setzt die Kritiker etwa mit Nazi-Richter Roland Freisler gleich. Fuat Sanaç meinte überdies, dass jene, die mit ihrer Zwangsbeschneidung nicht glücklich sind, "zum Psychiater gehen sollen", denn Beschneidung sei "wie Fingernägel schneiden". Der Mathematik-Experte für Religiöses, Rudolf Taschner, sieht in den Kritikern "Antisemiten reinsten Wassers". (Anm.: siehe dazu die Taschner-PDF)

Typische Feigheit der Berufspolitiker

Wie sieht es auf politischer Ebene aus? Die erwartbare Reaktion wäre gewesen festzustellen, ob hier ein Problem vorliegt und wie es gelöst werden kann. Stattdessen wurde mit der gleichen pervertierten Auffassung von Religionsfreiheit die Kritik in Deutschland ("Komikernation" © Merkel) vom Tisch gefegt.

Die typische Feigheit der österreichischen Berufspolitiker, sich besser gar nicht zu äußern, hat in dem Fall auch ein Gutes: Es besteht noch die Chance, die Diskussion nicht weiter eskalieren zu lassen und auf ein lösbares Format zu bringen. Es scheint sich auf allen Seiten zumindest ein Konsens durchzusetzen, dass es verschiedene Auffassungen über die Religionsfreiheit, medizinische Erkenntnisse und juristische Beurteilungen gibt.

Politik sollte an eine Entscheidung, wie mit Beschneidung umzugehen ist, jedenfalls evidenzbasiert herangehen und nicht vorschnell die Propaganda der institutionellen Religion vollziehen.