Ägypten: Ende eines perversen Bündnisses

Hartmut Krauss - Das Ende der falschen Konstellationen auf dem Tahrirplatz

Eine kritische Betrachtung angesichts der gewaltsamen Zusammenstöße zwischen Islamisten und säkularen Kräften in Kairo


Vorschnell und einseitig wurde der Sturz der säkularen Autokratien in Tunesien und Ägypten als unaufhaltsamer Aufbruch zu demokratischen Ufern stilisiert.
Gleichzeitig bagatellisierten deutsche Politiker und Journalisten die reaktionäre und fortschrittsfeindliche Rolle der Islamisten, schwadronierten vom bereits unumkehrbaren Beginn einer neuen Epoche der arabischen Länder und stellten jeden Vergleich mit dem Ablaufmuster der Installierung des iranischen Gottesstaates in Abrede. Zudem überschätzte man die Rolle und die Handlungsmöglichkeiten der tatsächlich progressiven und unterstützungswerten, aber minoritären Gruppe der jungen städtischen Facebook-Aktivisten und übersah die ausschlaggebende Zählebigkeit der soziokulturellen Vormachtstellung islamischer Traditionen und Mentalitäten als probater Nährboden für radikalislamische Kräfte.

Angesichts dieses revolutionstheoretischen Analphabetismus erkannten dann nur ganz wenige massenmedial zu Wort kommende Beobachter das strukturell Naheliegende, nämlich den Übergang von der säkularen Autokratie zur islamischen Renormalisierung der autoritären Herrschaftsverhältnisse. "Der arabische Frühling hat noch gar nicht begonnen. Das wahre Gefängnis ist nicht die Diktatur. Die Diktatur ist nur die erste Mauer, aber dahinter befindet sich das echte Gefängnis, sozusagen der Hochsicherheitstrakt, das sind die Kultur und die Frage des Islam. (…) Es wird interessant, wenn in Libyen oder Tunesien oder Ägypten gewählt wird. Wenn die Islamisten gewinnen, werden sie wieder eine Diktatur errichten, sei es eine sanfte Diktatur wie in der Türkei, sei es eine Diktatur wie in Iran." (Boualem Sansal in einem Interview mit der Neuen Züricher Zeitung)

Tatsächlich siegten dann bei den Wahlen in Ägypten die Muslimbrüder und Salafisten, was bei den vorliegenden Erkenntnissen über die Einstellungen innerhalb der Bevölkerungen leicht vorhersagbar war. So sprach sich eine überwältigende Mehrheit für einen starken Einfluss des Korans auf die Gesetzgebung sowie für eine zentrale Rolle des Islam in der Politik aus. Dieses Einstellungsbild, das in anderen arabischen Ländern ähnlich geformt ist, ist Ausdruck der traditionell gültigen, absoluten Vorherrschaft orthodox-islamischer Prinzipien in allen wesentlichen Gesellschaftsbereichen. Das autokratische Regime in Ägypten hatte dieses herrschaftskulturelle Dominanzverhältnis nicht etwa außer Kraft gesetzt, sondern lediglich mit seinen kleptokratischen und repressiven Strukturen überformt Gerade für Ägypten galt, dass die 1928 gegründete radikalislamische Muslimbruderschaft, die einen islamischen Gottesstaat anstrebt und ein weltweites Netzwerk von Ablegerorganisationen hervorgebracht hat, zwar als politische Partei verboten war, sich aber dennoch als "bestorganisierte Oppositionskraft" reproduzieren konnte. Sowohl unter Sadat als auch unter Mubarak wurden den Islamisten immer wieder Handlungsspielräume gewährt, wenn es darum ging, säkulare Fortschritts- und Modernisierungskräfte einzuschüchtern und auszuschalten.

Das unnatürliche, ja weltanschaulich-politisch perverse Aktionsbündnis zwischen Islamisten und säkularen Kräften konnte sich unter diesen tradierten herrschaftskulturellen Bedingungen einmal mehr nur als Türöffner und Trampolin für die reaktionären Gottesfanatiker erweisen und zerbrach spätestens in dem Moment, wo die Islamisten, gestützt von der reaktionären Abstimmungsmehrheit, die entscheidenden Staatsfunktionen übernahmen.

Was den antiislamkritischen Experten blieb, war nunmehr die Legende von den "gemäßigten" Muslimbrüdern. Darin steckt formal (allerdings nicht ideologisch) ein Körnchen Wahrheit, denn die Salafisten erscheinen noch aggressiver und reaktionärer, ganz so, wie die NPD im Vergleich zur verbotenen FAP gemäßigter erscheint und die rechtspopulistische Pro-Bewegung gewissermaßen als "linksxenophobischer" Flügel der "neuen Rechten" bezeichnet werden könnte.

Nunmehr hat sich aber auch dieses rhetorische Verwirrspielchen im Licht realer Tatsachen erledigt: Bei schweren Ausschreitungen auf dem Tahrirplatz in Kairo schlugen die Anhänger der "gemäßigten" Muslimbrüder mit Stöcken und Eisenstangen auf säkulare Anti-Mursi-Demonstranten ein und zerschlugen deren Veranstaltungsbühne. Laut Zeitungsberichten riefen die Islamisten: "Das Volk will die Säuberung der Justiz" und "Wir lieben dich, oh Mursi". Sie trugen Bilder von Hassan al-Banna, dem Gründer der Muslimbruderschaft. Die "Revolutionsjugend" und Mitglieder verschiedener linker Parteien schrieen ihnen entgegen: "Nieder mit der Herrschaft der Muslimbrüder" und "Nieder mit dem Verfassungsrat" und zerstörten zwei Busse, mit denen islamistische Schlägergruppen vom Landesinneren nach Kairo gebracht worden waren.

Trotz der ca. 200 Verletzten ist diese Renormalisierung der Konfliktlinien und die Auflösung der perversen Anti-Mubarak-Aktionseinheit zu begrüßen. Denn wer glaubt, die Durchsetzung einer echten Demokratisierung und Modernisierung in islamischen Ländern könnte gewalt- und konfliktfrei in geregelten und rational-diskursiven Kommunikations- und Vertragsprozessen ablaufen, sollte sich lieber zwecks Schonung des zarten Gemüts mit anderen Dingen beschäftigen. Fürdahin mag ein Blick nach Syrien - unabhängig von der gleichermaßen abstoßenden Konstitution der Akteure - genügen. Auch bleibt zu hoffen, dass der Außenminister des iranischen Gottesstaates, Ali Akbar Salehi, mit seiner folgenden Abschlussaussage in einem SPIEGEL-Interview nicht recht behalten wird: "Wir können mit der Geduld unseres Volkes rechnen. Sie in Europa auch?"