Darüber schrieb am 17.10.2014 in den OÖNachrichten Severin Renoldner,
Bereichsleiter für Bildung und Kultur der Diözese Linz, hier sein
Artikel mit ergänzenden atheistischen Anmerkungen:
Renoldner:
In Europa schrumpfen die Religionen, wobei die großen Kirchen
noch immer die überwiegende Bevölkerungsmehrheit ausmachen. In den
USA, Afrika, Asien und Lateinamerika wachsen die Religionen. Die Säkularisierung
nötigt die Religionen, ihr Verhältnis zur Gesamtbevölkerung neu
zu überdenken: zur Demokratie, zur pluralen Gesellschaft, in der man seine
Grundüberzeugung frei wählen kann.
Atheistische Anmerkung:
Ja, die Kirchen schrumpfen langsam, denn was durch die Jahrhunderte den Menschen
einerseits aufgezwungen wurde, aber andererseits auch eine Funktion ("Opium
des Volkes") hatte, das vergeht nicht in einem Jahrhundert. Aber in den
nächsten 100 Jahren wird die Religion in Europa ziemlich weggeschrumpft
sein. Denn es ist heute schon der Maßstab: je besser das Dasein ist, desto
schlechter wird's für die Religionen, die bedrängten Kreaturen haben
andere Möglichkeiten als religiös zu seufzen, bzw. seufzen sie in
einem sicheren Sozialstaat überhaupt weniger. Dass auf anderen Kontinenten
die Religion wächst, hängt einerseits mit dem Bevölkerungswachstum
und andererseits mit dem dortigen Elend zusammen. In den USA zeigen sich trotz
des weitgehend fehlenden Sozialstaates in letzter Zeit auch deutliche Säkularisierungstendenzen.
Richtig erkannt hat Renoldner: die Religionsfreiheit ist in unseren Breiten
zunehmend auch die Freiheit von Religion: aus Bedarfsmangel und auch aus der
Realitätsferne speziell der katholischen Kirche.
Renoldner:
Auch der weltanschaulich neutrale Staat muss sein Verhältnis
zu den Religionen beachten. Ethische Grundüberzeugungen und der soziale
Zusammenhalt einer Gesellschaft fallen nicht vom Himmel. Sie können auch
nicht durch eine Art Ethikunterricht erzeugt werden. Es braucht etwas Grundlegendes,
wofür sich die Menschen frei entscheiden.
Atheistische Anmerkung:
Der Staat bzw. die Bevölkerung braucht eine ethische Grundüberzeugung?
Da gibt's ganz einfache, etwa "was du nicht willst, das man dir tu, das
füg auch keinem andern zu". Das ist allerdings keine Religion, wohl
aber eine vernünftig-praktische Überlegung. Der soziale Zusammenhalt
wird allerdings immer brüchiger: das ganz besonders auch von den christlichen
Parteien getragene neoliberale Ausbeutungssystem vereinzelt die Menschen, in
den USA ist sich jeder selbst der Nächste, bei uns gibt's aber statt des
hilfreichen Nächsten, den institutionalisierten Sozialstaat: jeder ist
pflichtmäßig bei Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit versichert und
bekommt eine staatliche Alterspension. Das hat die Arbeiterbewegung gegen die
christlichen Parteien durchgesetzt, die sich heute noch bemühen, den Sozialstaat
zu reduzieren.
Der letzte Satz im obigen Absatz ist ziemlich unklar: wenn
was "grundlegend" ist, dann kann man sich wohl schwer frei entscheiden.
Weil Grundlegendes ist schon vom Wort her was Verpflichtendes! Aber in demokratischen
Gemeinschaften sind Gesetze grundlegend und bei bestehenden Gesetzen kann man
sich sicherlich nicht frei entscheiden, ob man ihnen folgt oder nicht. Man hat
die Möglichkeit für Gesetzesänderungen oder neue Gesetze einzutreten.
Was allerdings im neoliberalen Ausbeutungssystem schwierig ist: die christlichen
Parteien sind für den Neoliberalismus und die Sozialdemokratie hat längst
ihre Orientierung verloren, weil sonst wären neoliberale Parteiführer
wie Blair, Schröder oder Klima nicht möglich gewesen.
Renoldner:
Wie kommen Staatsbürger zu einer menschenfreundlichen, demokratischen,
ökologisch verantwortungsbewussten Grundhaltung? Woher nehmen sie ihr Wissen,
was gut und böse ist? Es genügt nicht, die Gesetze einzuhalten, darüber
hinaus sind sozialer Sinn und Werteüberzeugung notwendig. Zweifellos vermitteln
z.B. auch politisch-ideologische Grundhaltungen solche Werte: liberale, soziale,
ökologische, konservative Anschauungen.
Atheistische Anmerkung:
Wie kommt der Mensch zu diesen Haltungen? Erste Voraussetzung: man hält
sich von christlichen Parteien fern, weil die sind durchgehend profitfreundlich
und sonst gar nichts. Woher weiß man, was gut und böse ist? Aus dem
Strafgesetzbuch? Nein, meint der Renoldner, weil dazu müsste man Werteüberzeugungen
haben. So wie seinerzeit die Sozialdemokratie, die sich für Grundrechte
für die werktätige Bevölkerung einsetzte und viel auch als verbrieftes
Recht durchsetzen konnte, während von christlicher Seite nicht Sozialrechte,
sondern Almosen als Werte gesehen wurden und heute noch werden. Dass heute christliche
Werte in der Gesellschaft nimmer dominieren können, ist eine Folge des
Säkularismus, nach religiösen Vorstellungen richtet man sich kaum
noch. Von den von Reinoldner oben aufgezählten Grundhaltungen hatte seine
katholische Kirche durch die Jahrhunderte bis heute intensivsten Bezug zum Konservativismus,
die heutigen säkularen Werte mussten gegen diese Kirche durchgesetzt werden,
zumindest verbal und formal bekennt sie sich heute zu manchen dieser Werte,
98 % ihrer Existenzzeit war sie aktiv dagegen. Aber jetzt lügt man bisweilen
sogar, die Menschenrechte wären eine christliche Erfindung...
Renoldner: Die Religionen sind auch keineswegs
die einzigen Gemeinschaften, die Menschen nach ihrer Überzeugung zu guten
sozialen Taten bewegen: Es gibt NGOs, Feuerwehren, Rettungsdienste, Kulturinitiativen,
Umweltorganisationen und noch viel mehr. Pluralität ist überall: Man
kann gleichzeitig Katholik sein, in einer Feuerwehr mitarbeiten und eine soziale
Gesellschaftsideologie haben, und eben auch alles mögliche andere.
Atheistische
Anmerkung: Bitte wo bewegen die Religionen Menschen zu sozialen Taten? Bei
der Caritas-Haussammlung? Bei Spenden für "Licht ins Dunkel"?
Soziale Taten aus persönlichen Engagement sind in den heutigen sozialrechtlich
gesicherten Gesellschaften maximal eine Randerscheinung!
Wesentlich ist, dass alle Menschen das Grundrecht auf medizinische Hilfe haben,
dass sie gegen Arbeitslosigkeit und Arbeitsunfälle versichert sind, dass
sie im Alter ihre Renten bekommen, dass es in anderen Fällen durch entsprechende
Rechtssprüche, z.B. Sozialhilfe, nicht alleine gelassen werden, dass in
der Regel sich die meisten Leute auch durch andere Versicherungen vor Unglück
geschützt haben, eine Feuerversicherung hilft deutlich besser als der Heilige
Florian. Davon werden in unserer Gesellschaft wahrscheinlich 99 % aller möglichen
Probleme abgesichert. Dass sich jemand pflegend um Angehörige kümmert,
geschieht wohl kaum aus religiöser Überzeugung, sondern ergibt sich
aus den Lebensbezügen. Auch sind die Leute nicht bei der Feuerwehr, der
Rettung, bei Kulturinitiativen usw., weil sie einen sozialen Drang haben, Gutes
zu tun, sondern weil sie sich dafür interessieren, für sich selber
einen Sinn darin sehen, ihre persönliche Aufwertung dabei erleben, eine
Religion ist dafür keineswegs notwendig. Ich tu z.B. auch was Gutes, indem
ich diese Homepage betreibe. Und ich bin bestimmt nicht katholisch. Aber ich
tu zuallererst MIR was Gutes, weil ich meinen Spaß und meine Freude daran
habe! Und bei anderen Engagements ist das auch nicht anders, Pfarrgemeinderäte
entstehen auch auf dieselbe Art.
Renoldner: Auch wenn
der Staat nicht entscheiden darf, welche Grundüberzeugung die "richtige"
ist, bezieht er ein hohes Gut von den Wertegemeinschaften: die ethische Überzeugung
und Bereitschaft von Millionen von Menschen, sich zum Gelingen und Wohl der
ganzen Gesellschaft zu engagieren. Ein Beispiel im Kleinen: Renoviert eine Pfarre
ihre Kirche, oft das einzige Kulturdenkmal und Ort der Identifikation, es wäre
unfinanzierbar ohne die Hunderten Freiwilligen. Kein Kirchenbeitrag, keine Kulturförderung
des Landes wäre hoch genug. Angenommen, die Pfarre stirbt aus und die Gemeinde
renoviert die Kirche - wie viele Freiwillige würden sich melden? Wer würde
sich unentgeltlich stunden-, ja monatelang für ein "Projekt des Bürgermeisters"
engagieren? So sehr die Kirchen heute froh sein sollten, dass sie in der Demokratie
leben, so glücklich sollte auch der säkulare Staat darüber sein,
dass er Sinn stiftende Glaubensgemeinschaften hat. Denn der Staat aus sich allein
oder die plurale "Gesellschaft" kann einen solchen Sinn nicht erschaffen.
Atheistische
Anmerkung: Bitte schön, wo engagieren sich "Millionen" für
das "Wohl der ganzen Gesellschaft"? Unsere Gesellschaft läuft
doch nicht auf der Basis ethischer Überzeugungen! Die Menschen gehen arbeiten,
weil sie zum Leben Geld brauchen, sie zahlen ihre Sozialversicherungsbeiträge,
damit alle eine Grundsicherung haben und Engagement mit gemeinschaftlichen Nutzen
haben immer auch einen individuellen Nutzen für die Engagierten.
Das
Beispiel im Kleinen vom Renoldner ist ein recht zweischneidiges:
Erstens müssen für Kirchenrenovierungen ungefragt auch Atheisten und
alle anderen, die nix mit Kirchgehen am Hut haben, mithelfen. Weil dazu zahlt
der Denkmalschutz und auch das Land und die Gemeinde mit und das nicht gerade
wenig: auch mit meinen Geldern! Und warum sollte die Gemeinde die Kirche einer
ausgestorbenen Pfarre renovieren? Üblicherweise wird heute sowas abgerissen
oder säkularisiert.
Zweitens zum gemeinsamen Arbeiten noch ein Zitat aus Wikipedia: "Der Subbotnik
(von russisch subbota 'Sonnabend') ist ein in Sowjetrussland entstandener Begriff
für einen unbezahlten Arbeitseinsatz am Sonnabend, der in den Sprachgebrauch
in der DDR übernommen wurde." Der Subbotnik lief hauptsächlich
im Frühjahr ab, wo die Bevölkerung in Städten und Gemeinde aufgerufen
wurde, eine Art Frühjahrsputz mit einer Reihe von kleineren Reparaturen
an Einrichtungen und Gebäuden vorzunehmen. Also für Gemeinsames gemeinsam
zu handeln. Der Subbotnik war sicherlich deutlich was Sinnvolleres als eine
Kirchenreparatur. Aber auch die Kirchenreparatur erfolgt auf ähnliche Motivation:
nämlich durch den Druck auf eine Gemeinschaft. Wer gefragt wird, ob er
helfen oder spenden kann, wird sich - wenn er ein Kirchgeher ist - schwer davon
drücken können. Sowenig sich seinerzeit in der UdSSR oder der DDR
Bewohner eines Wohnblocks davor drücken konnten, bei einem Wohnblock-Subbotnik
mitzuhelfen. Aber in einigen Städten in der ehemaligen DDR gibt's trotzdem
den Subbotnik noch heute. Und sicherlich eher religionslos.
Bild: Subbotnik
im März 2014 in einer ostdeutschen Kleinstadt:
Was
das alles mit der christkatholischen Religion zu tun haben soll, bleibt dem
Leser des Renoldner-Artikels rätselhaft. Was für einen sonst nicht
vorhandenen, aber notwendigen Sinn stiften Glaubensgemenschaften? Früher
als es noch keinen Sozialstaat, aber eine alles dominierende katholische Kirche
gab, war das Leben der Menschen weitaus schlechter und in Ländern ohne
Sozialstaat ist es heute noch so. Der Schaden, den die katholische Kirche der
Menschheit zugefügt hat, ist riesig und wurde erst in Ansätzen aufgearbeitet
(vom "Pfaffenspiegel" bis zur
"Kriminalgeschichte
des Christentums"). Die Überwindung der kirchlichen Dominanz
hat unser Leben verbessert, dem weiteren Niedergang des religiösen Einflusses
steht nichts im Wege und es wird davon - außer den Kirchen - niemand einen
Schaden haben. Amen.
PS: Seinerzeit als die katholische Kirche die
Gesellschaft völlig dominierte, war zwangsläufig die Kirche auch für
das Sozialwesen zuständig. Die Kirche kassierte den Zehent, presste die
Leute für die Errichtung religiöser Bauten aus, die Kirchengelder
wurden in den mittelalterlichen Diözesen so aufgeteilt: ein Drittel ging
an den Bischof und seinen Hofstaat, ein Drittel an die Priester und die Pfarren
und das dritte Drittel an Witwen und Waisen und andere Bedürftige. Der
Bischof und alle Armen erhielten also gleich viel. Welch wunderbare Ethik! Oder?