Einheit des Erbguts erschüttert

"Unser Genom ist gefallen"

Publiziert am 2. November 2015 von Wilfried Müller auf www.wissenbloggt.de

Die ZEIT Nr. 42 vom 15.10. enthält einen Überraschungseffekt –  Genetik: Im Kern überraschend (ZEIT ONLINE, 29.10.): Anders als bisher vermutet, tragen Körperzellen des Menschen kein einheitliches Erbgut in sich, sondern bilden Mosaike. (Bild: Strukturmodell einer DNA-Helix in B-Konformation, Attribution: Zephyris at the English language Wikipedia.)

Der Autor Ulrich Bahnsen nennt das ein "kleines, schmutziges Geheimnis der Genetik". Die jüngsten Erfolge der Disziplin stürzen anscheinend das Lehrbuchwissen um, nach dem alle Körperzellen des Menschen ein identisches Genom beherbergen.

Die Einheitlichkeit war lange das Credo der biomedizinischen Forschung. Zwar wusste man, dass es beim Wachstum immer wieder zu Zellteilungs-Fehlern kommt, bei denen das Erbgut der Tochterzelle nicht ganz identisch mit dem der Mutterzelle ist. Seit man Untersuchungen und Vergleiche einzelner Zellen durchführen kann, anstatt immer Millionen davon heranzuziehen, ließ sich das Problem genauer untersuchen.

Dabei kam heraus, dass das Erbgut sich generell nicht 1:1 in die verschiedenen Gewebe hinein kopiert. Der Unterschied ist also nicht bloß, dass an verschiedenen Stellen unterschiedliche Gene aktiv sind, sondern die Gleichheit der Chromosomen ist nicht gegeben. Was jahrzehntelang als erwiesen galt, erwies sich als Trugschluss. Jetzt weiß man, dass die Proben mit den Millionen Zellen die Unterschiede wegmittelten. Der neue Kenntnisstand besagt, dass wohl keine Zelle dieselbe Erbinformation hat wie die nächste.

Mehr noch, das Genom der Menschen ist nicht "stabil", sondern es wandelt sich stetig um. Bei den Zellteilungen ändert sich quasi der menschliche Quellcode. Es entsteht "ein Patchwork aus Zellverbänden mit diversen Genausstattungen". Das ergab die Bestandsaufnahme der Forscherzunft bei dem Heidelberger Meeting The mobile Genome – das veränderliche Erbgut.

Von der ersten Zellteilung des Embryos an kommt es demnach zu Verschiebungen, Verlusten oder Vervielfachungen von Informationen. Alle nachfolgenden Zellteilungen schleppen die Modifikationen mit, und es kommen anscheinend immer neue dazu. Am Ende hat der ausgewachsene Körper den besagten genetischen Flickenteppich.

Speziell das Gehirn scheint von der genomischen Diversifizierung betroffen zu sein. Die Folge laut Zeit-Artikel: Auch beim gesunden Menschen herrscht dort "buntes Chaos".

Ob es wirklich so schlimm ist? Die Zeit schreibt immerhin, die genetische Einheit des Menschen sei zerfallen, mit der neuen Erkenntnislage sei die "letzte Ordnungsgröße aus der Humangenetik gewichen". Schließlich habe bereits die Entzifferung des Menschenbauplans im Human Genome Project gezeigt, dass das universelle Erbgut unserer Spezies eine Fiktion sei.

Das Erbgut von verschiedenen Individuen weist genetische Variationen allerorten auf (allerdings nur im Promillebereich, 99,9% sind gemeinsam, Anmerkung wb). Nun zerfällt laut Zeit auch die genetische Einheit des Menschen, die "biologische Identität des Individuums" müsse aufgegeben werden. Das führte zu dem doch recht plakativen Spruch "Unser Genom ist gefallen". Der Begriff Genom erweise sich als "klapprige Konstruktion menschlichen Denkens". "Das Erbgut" eines Menschen existiert demnach nicht, es sei vielmehr ein vom Zufall erzeugtes Mosaik aus vielen Genomen.

Immerhin sprechen die Wissenschaftler noch vom Erbgut eines Menschen, aber je genauer sie hinschauen, desto mehr verwischen die Konturen ihres Forschungsgegenstands. Die Zeit vergleicht das mit dem Aufkommen des relativistischen Zeitalters in der Physik.

Entsprechend schwerwiegend stellen sich philosophische und anthropologische Fragen in der Genetik: Wie individuell ist ein Mensch? Es gibt sogar medizinische Konsequenzen der neuen Erkenntnis. Sie liefert nämlich Ansätze zur Lösung von Krankheitsproblemen: Genetische Veränderungen in einzelnen Körperzellen dürften demnach zur Bürde der Krankheiten mehr beitragen, als bishar vermutet wurde. Ein breites Spektrums menschlicher Leiden könnte darauf gründen. Der Wissensstand bei Diabetes, Fettsucht oder komplexen Herz-Kreislauf-Leiden müsse überdacht werden.

Wo immer erbliche Veranlagung eine Rolle spielt, öffnet sich ein weites Feld für die zusätzlichen Genveränderungen, um die Disposition zur Krankheit zu ver- oder entschärfen. Ob die genetischen Mosaike die Diskrepanzen bei der Anfälligkeit erklären können, sei aber noch ungeklärt. Das Ausmaß der Variation verleitete einen Forscher jedoch zu der Aussage, der Begriff Gewebe scheine schon fast überholt.

Im Hirn wird schon seit längerem über genetische Vielfalt berichtet, aber erst jetzt finden die Aussagen mehr Beachtung. Der Variantenreichtum sei tatsächlich spektakulär, schon bei 110 einzelnen Nervenzellen stieß man auf umfangreicheModifikationen der Erbinformationen. Alles war betroffen, einzelne Genbausteine und ganze Chromosomen. 40% der Nervenzellen im gesunden Großhirn sind demnach abnorm. Andere Angaben sprechen sogar von 1.500 unterschiedlichen Mutationen in jeder einzelnen Nervenzelle im Großhirn. Besonders häufig seien Erbanlagen betroffen, die für Zellen kodieren, die im Nervensystem besonders aktiv arbeiten.

Das führt bis zu dem Vorschlag von einem neuen Forschungsfeld "die Populationsgenetik des Großhirns", bei dem die Zellen des Denkorgans ähnlich analysiert werden können wie menschliche Bevölkerungen.

Was sich abzeichnet, sei der geringer als angenommene Einfluss der Umwelt auf das Gehirn, sprich von Sozialisation, Ernährung, Lebensstil. Als Beipiel halten die beliebten eineiigen Zwillinge her: Wenn einer von Schizophrenie betroffen ist, hat der andere ein Erkrankungsrisiko von 50%. Eigentlich haben sie doch dieselben Gene geerbt und müssten beide erkranken?

Was bisher durch die unterschiedliche Umwelt erklärt wurde, sollen jetzt die unterschiedlichen Mosaike im Hirn erklären. Dieselbe Begründung vermutet man für Depressionen, Angststörungen oder Autismus. Also nicht im Blut der Patienten sei nach der Ursache für ihre Leiden zu forschen, sondern in den Erbmolekülen der Hirnzellen. Dieser "Umsturz" dürfte die Ursachenforschung für neuropsychiatrische Krankheiten verändern, wenn auch bisher noch Ratlosigkeit herrsche, angesichts der unerwarteten Vielfalt im Gencode.

Das bunte Chaos lebt, könnte man bilanzieren. Andererseits ist auch denkbar, dass die Körperzellen gar keine genauen Kopien der Chromosomen brauchen, solange die wesentlichen Funktionen dabeibleiben. Angenommen, die Replikation für die Keimzellen ist exakt, und sonst ist sie eher summarisch – dann spräche das doch bloß für Effizienz und wäre ein leicht erklärbares Ergebnis der Evolution.

Links dazu:
Der Artikel als Audiodatei im Premiumbereich der Zeit
Entscheidungsverarbeitung
Kann ich meinem Hirn trauen? (9 Teile, die kurze Antwort ist nein)