Alt gewordene Professoren lieben es, sich in aller Öffentlichkeit
ihrer Anfänge im akademischen Leben zu erinnern; so auch ein über
Freising, Bonn, Münster, Tübingen, Regensburg und München schließlich
nach Rom als Sanctitas Sua berufener deutscher Professor der römisch katholischen
Theologie. Die Rede ist vom emeritierten Papst Benedikt XVI., bürgerlich
Joseph Aloisius Ratzinger, und die vom ihm in Buchform angebotenen "Letzte
Gespräche".
Fotomontage
Ratzinger/Adenauer © DKP
Welche Er- und vor allem Bekenntnisse liefert
Ratzinger mit seinem jüngsten Werk in Interviewform? Zum Beispiel das Bekenntnis
zum "überzeugten Adenauerianer", der sich ausdrücklich mit
der von diesem Regime betriebenen Anbindung an die US-amerikanischen Geschäfts-
und Kriegsinteressen identifiziert. So war Ratzinger 1959 bis 1963 Ordinarius
für Fundamentaltheologie in Bonn. Bonn gehörte zum Bistum Köln
unter Leitung von Kardinal Joseph Frings (1887-1978), dessen Konzilsberater
Ratzinger wurde. Frings hatte die Hetzschriften des Jesuitenpaters Johannes
Leppich (1915-1992) gegen die satanischen Kommunisten das Imprimatur erteilt.
"War nicht Karl Marx ein Jude!", so ruft Leppich SJ als Wanderhetzer
und in seiner 1964 erstmals aufgelegten Schrift "Atheisten Brevier"
den deutschen Katholiken in Erinnerung und bemerkt: "Der Kommunismus ist
die größte und gefährlichste Häresie der Weltgeschichte.
[…] Das ist der raffinierteste Schachzug Satans, daß er durch die Verheißung
eines sozialen Paradieses täuscht, durch seinen Chiliasmus". Ratzinger
hat ein solches Denken nach Rom mitgenommen.
Befreiungstheologen,
die in ihrer Treue zur Nachfolge von Jesus von Nazareth (+30 u. Z.) mutig und
revolutionär Partei für die Armen und Unterdrückten nahmen und
sich mit Karl Marx (1818-1883) für eine Veränderung der Verhältnisse
im Sinne der 11. Feuerbachthese bekannten, wurden vom Theologieprofessor Ratzinger
abgelehnt, weil sie sich weigerten, sich dem lehramtlichen Diktat aus dem Vatikan
zu unterwerfen. Ein Dialog darüber wurde vom Vatikan weder angestrebt
noch geführt. Weshalb auch - die Rangordnung war gegeben. Als 1981 vom
polnischen Papst Johannes Paul II. (1920-2005) ernannter Präfekt der Kongregation
für die Glaubenslehre hat Ratzinger in einer Instruktion die von der marxistischen
Analyse inspirierten Schlussfolgerungen der Befreiungstheologie für die
revolutionäre Umkehrung der Geschichte scharf zurückgewiesen (6. August
1984). Schon in seiner Osterpredigt 1979 im Münchener Liebfrauendom hat
Ratzinger als Erzbischof von München gegen die Befreiungstheologie gepredigt,
"Strategien des Klassenkampfes und einer Bewusstseinsbildung, die auf die
Weckung des Neides abzielt" seien "Strategien des Todes". Kardinal
Joseph Höffner (1906-1987), früher Theologieordinarius, gab diesem
negativen Gutachten seines Kollegen Ratzinger am 24. September 1984 bei der
Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz noch eine spezielle Note,
indem er unterstellte, die Befreiungstheologie würde sich im Klassenkampf
auf Gewalt kaprizieren. In ihrem Gutachten argumentiert dieser deutsche Oberlehrer,
"die Option der Befreiungstheologie für die marxistische Analyse ist
keine wissenschaftliche, sondern eine emotionale Entscheidung", das könne
nicht die Grundlage der Theologie sein. Überhaupt, "die Frohbotschaft
Christi kann nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse ausgerichtet sein".
Zu den aus der Perspektive der Opfer geschriebenen und im Kontext der "Kirche
der Armen" stehenden Werken des Befreiungstheologen Jon Sobrino SJ (*1938)
gab Ratzinger als Papst Benedikt XVI. noch eine eigene "Notifikation"
als Verwarnung hinaus. Weshalb gegen Jon Sobrino SJ und nicht zum Beispiel gegen
Ignacio Ellacuría SJ (1930-1989), haben doch beide gemeinsam das fundamentale
Werk Mysterium Liberationis herausgegeben?
Die Antwort darauf gibt Ratzinger
in seinen "Letzten Gedanken" selbst. Von seinen sehr vielen Begegnungen
mit Zeitgenossen hebt er jene mit Vaclav Havel (1936-2011) und Shimon Peres
(1923-2016) als besonders nachhaltig hervor. Bei Havel habe er bewundert, was
dieser "über das Verhältnis der Politik zur Wahrheit sagt",
Peres bewundere er wegen dessen "lauterer Menschlichkeit und Offenheit".
"Politik zur Wahrheit"! Am 21. Februar 1990 hielt Havel vor beiden
Kammern des US-Kongresses eine siebzehnmal durch Ovationen unterbrochene Rede,
in welcher die USA als Verteidiger von Freiheit, Stabilität und Sicherheit
in der Welt bejubelt wird. Wenige Wochen zuvor, am 16. November 1989, waren
in El Salvador sechs vom Ethos der Solidarität mit den Armen und Unterdrückten
angeleitete Befreiungstheologen in der dortigen Jesuitenkommunität als
Dissidenten des US-Imperialismus von dessen Henkersknechten ermordet worden,
und zwar: Ignacio Ellacuría SJ (1930-1989), von Ignacio Martín-Baró
SJ (1942-1989), Segundo Montes Mozo SJ (1933-1989), Amando López Quintana
SJ (1936-1989), Juan Ramón Moreno Pardo SJ (1933-1989) und Joaquín
López y López SJ (1918-1989). Sobrino SJ war zufällig gerade
nicht anwesend gewesen. Havel hat als Leitfigur des europäischen Moralismus
dazu und zu dem ebenfalls einige Wochen vor seiner Rede erfolgten blutigen Kolonialeinmarsch
der USA in Panama geschwiegen. Knapp zehn Jahre später begrüßte
Havel ausdrücklich die völkerrechtswidrige NATO-Bombardierung am Balkan,
wozu er tschechische Logistik zur Verfügung gestellt hat. Dieses bewusste
Verschweigen welthistorischer Verbrechen stört das Wahrheitsempfinden Benedikt
XVI. sichtlich ebenso wenig wie die unter dem Nobelpreisträger Shimon Peres
fortgeführten Gewaltverbrechen in den palästinensischen Besatzungsgebieten
oder auf dem Territorium des Libanon. Das Bündnis der römisch katholischen
Kirche mit den Kräften des Imperialismus bleibt für Ratzinger jederzeit
die Hauptlinie. 2007 spricht er massenhaft katholische Priester und Ordensleute,
die im spanischen Bürgerkrieg an der Seite des spanischen Faschismus gestanden
sind, selig.
In einem Anflug von Altersavantgardismus äußert
sich Benedikt XVI. kritisch über den "etablierten und hochbezahlten
Katholizismus" in Deutschland, wenngleich er vergisst hinzuzufügen,
dass er selbst Funktionär dieses korrupten deutschen Establishments war
und ist. Die von Ratzinger dargestellte Auseinandersetzung mit dem Schweizer
Hans Küng (*1928) stellt sich nicht mehr als ein Streit zwischen zwei ebenso
unfehlbaren wie eitlen Ordinarien innerhalb dieses europäischen Komfortkatholizismus
dar.
Der historisch konkreten Nachfolge von Jesus von Nazareth steht
Professor Ratzinger alias Benedikt XVI. in seinen "Letzten Gedanken"
völlig fern, er gibt im Gegensatz zu Papst Franziskus (*1936) nirgends
Anlass zur Hoffnung für die Opfer dieser brutalen Welt. Benedikt XVI. würde
gerne, wie er erzählt, das Motto des Professor Ratzinger als Inschrift
auf seinem Grabstein sehen: "Mitarbeiter der Wahrheit". Es ist das
die Wahrheit der römisch katholischen Kirche als eine der weltanschaulichen
Fundamente des imperialistischen Weltsystems, eine Wahrheit, die fern der konkreten
historischen Wahrheit und damit fern der evangelischen Wahrheit ist. Was für
ein Unterschied zum würdigen Nachdenken über das, was bleibt, von
Seiten des vielleicht größten Marxisten des vorigen Jahrhunderts
Bertolt Brecht (1898-1956): "Ich benötige keinen Grabstein, aber /
Wenn ihr einen für mich benötigt / Wünschte ich, es stünde
darauf: / Er hat Vorschläge gemacht. Wir / Haben sie angenommen. / Durch
eine solche Inschrift wären / Wir alle geehrt /". Der Theologe Andreas
Batlogg SJ meint, dass Benedikt XVI. mit dieser Wortmeldung die mit Papst Franziskus
verknüpften Hoffnungen beschädigt und folgert im Deutschlandfunk,
dass es dieses Buch eigentlich nicht geben sollte. Es gibt es aber und es
ist zudem ein wichtiges Dokument der von Ratzinger repräsentierten hegemonialen
römisch katholischen Theologie, die für die Menschheit nur die Zementierung
von Elend bedeutet.