Sevim Dagdelen: Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft. Westend Verlag, Frankfurt am Main 2016, 219 Seiten, österr. Preis 18,50 Euro
Arnold Schölzel stellt das Buch auf www.jungewelt.de vor.
Am 16. August berichtete die ARD-»Tagesschau«, die Bundesregierung
habe in ihrer Antwort auf eine kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sevim
Dagdelen (Die Linke) vertraulich erklärt, dass sich die »Türkei
zur zentralen Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen der Region
des Nahen und Mittleren Ostens entwickelt« hat.
Die Politikerin, die
Mitglied des Auswärtigen Ausschusses ist und Sprecherin ihrer Fraktion
für internationale Beziehungen, zitiert dieses Eingeständnis mehrfach
in ihrem Buch »Der Fall Erdogan. Wie uns Merkel an einen Autokraten verkauft«.
Der Satz benennt eine Tatsache, die jedem, der es wissen wollte, z.B. Lesern
dieser Zeitung, bekannt ist. Sie wird jedoch von den meisten deutschen Politikern,
auch Linken, vor allem aber von den hiesigen Mainstreammedien unterschlagen:
Das Regime des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan gehört
neben den feudalen Golfdiktaturen zu den wichtigsten Unterstützern jener
Banden, die inzwischen Nord- und Westafrika, vor allem aber den Nahen und Mittleren
Osten mit krimineller Gewalt überziehen und deren Arm auch nach Europa
reicht.
Das religiöse Mäntelchen, das sie sich umhängen, kaschiert
nur schlecht, dass sie ihrem politischen Charakter nach das Fußvolk von
USA, NATO und eben Erdogan sind und in ihrer Brutalität den Schläger-
und Mordtrupps der deutschen Faschisten in den 1920er und 1930er Jahren ähneln.
Die Autorin benutzt die Vokabel »faschistisch« für Erdogan
nicht. Sie zieht allerdings Parallelen zum Regime Benito Mussolinis in Italien
und nennt zu Recht die Forderung des Herrschers in Ankara »faschistoid«,
das Blut von elf türkeistämmigen Bundestagsabgeordneten zu untersuchen,
weil es wahrscheinlich »verdorben« sei. Diese hatten am 2. Juni
für die Resolution zur Verurteilung des Völkermords von 1915 an den
Armeniern in der Türkei gestimmt.
Angesichts der gewaltbereiten Erdogan-Fans
in der Bundesrepublik stehen die Parlamentarier seither unter Polizeischutz
- die Bundesregierung hat auch damit kein besonderes Problem. In den Vordergrund
stellt Sevim Dagdelen Erdogans Willen, mit einem »Putsch in Zeitlupe«
eine »islamistische Diktatur« zu errichten und die Drei-Affen-Haltung
»nichts sehen, nichts hören, nichts sagen« - also Komplizenschaft
- der Bundesregierung. Das hat Tradition, wie die Autorin zeigt. Sie zitiert
den Satz des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg, das Reich stehe zur
Türkei, »ob darüber Armenier zugrunde gehen oder nicht«.
Dagdelen schreibt, so wolle die Bundesregierung »heute, rund hundert Jahre
später, die Türkei in der Allianz halten, auch wenn die Kurden darüber
zugrunde gingen«.
Sevim Dagdelen illustriert diese Thesen in
19 Abschnitten ihres Buches mit umfangreichem Material und einigen Augenzeugenberichten
wie zu den Gezi-Park-Protesten in Istanbul 2013. Die Mehrzahl der Kapitel ist
den politischen Beziehungen zwischen Ankara und Berlin gewidmet, angefangen
vom Erpressungsinstrument EU-Türkei-Deal - Flüchtlingsabwehr gegen
Visumfreiheit -, den die beiden »Hasardeure des Machterhalts« abschlossen,
über den Putschversuch vom 15. Juli, von dem Erdogans Geheimdienst vermutlich
vorab wusste, bis zur absurden Distanzierung der Bundesregierung am 2. September
von der Bundestagsresolution zum Völkermord an Armeniern.
Hier seien drei Problemkreise, die sie erörtert, hervorgehoben:
Erstens
die »ökonomische Achse Berlin-Ankara«. Das deutsche Interesse
an Kapitalexport ergänzte sich mit der neoliberalen Politik des Ausverkaufs
von Staatseigentum Erdogans aufs Schönste.
Zweitens: Die Autorin
macht auf die enge Bindung Erdogans an die Muslimbruderschaft aufmerksam und
stellt die Bedeutung des 30. Juni 2013, das Datum des ägyptischen Militärputsches
gegen Präsident Mohammed Mursi, für ihn heraus. Der Sturz des Muslimbruders
in Kairo, den der Westen »kalt abserviert« hatte, sei ihm (wie auch
seinem langjährigen politischen Helfer Fethullah Gülen) »ein
warnendes Beispiel« gewesen. Erdogan habe seither gewusst, dass er dem
Westen nicht trauen könne, während Gülen auf diesen setzte. Die
Regierungspartei AKP betreibe systematisch eine »Islamisierung und Sunnitisierung«
in der türkischen Gesellschaft - kein Schweinefleisch, keine Ferkel in
Trickfilmserien, Einschränkung des Alkoholverzehrs, Propaganda für
Frauen als Gebärmaschinen und Kopftuchträgerinnen etc. Im April dieses
Jahres ließ dann der türkische Parlamentspräsident Ismail Kahraman
die Katze aus dem Sack: »Wir sind ein islamisches Land. Deshalb sollten
wir eine religiöse Verfassung schaffen.«
Drittens analysiert
Sevim Dagdelen die Einflussnahme Erdogans auf die türkische Minderheit
in der Bundesrepublik. Auch hier gewährt die Bundesregierung jeden
Spielraum - für die Nutzung staatlich-türkischer Moscheen zu politischer
Propaganda, für Parteien, Sportvereine und Rockerklubs.
Sevim
Dagdelens Buch besagt: Die geopolitische und wirtschaftliche Kooperation hat
eine gemeinsame ideologische Basis, nämlich den schleichenden Rechtsputsch.
Der Band ist so auch eine dringende Warnung. Es wird eine Parallele gezogen
zu dem, was in den 1930er Jahren als Appeasement beschönigt wurde. Damals
war das Ziel der übelsten Figuren in London und Paris, dem deutschen Faschismus
freie Hand für den Krieg gegen die Sowjetunion zu verschaffen. Wer Erdogan
gewähren lässt wie Merkel, wird ein ähnliches Desaster wie damals
herbeiführen.