Qualitätslügen für die Qualitätsmedien

Publiziert am 23. November 2016 von Wilfried Müller auf www.wissenbloggt.de

Qualitätslügen für die Qualitätsmedien?

Dieser Titel erweist sich schon nach ein paar Zeilen als reichlich optimistisch. Die Qualität kann man getrost weglassen, dann gibt's Lügen für die Medien. Das trifft die Sache wahrscheinlich besser (Bild: ScienceBlogs bloodnacid).

Was Sache ist? Nun ja, Lügen mit neuer Qualität, könnte man sagen.

Vor ein paar Jahren machte der Begriff truthiness Furore. Das Bauchgefühl sagt einem intuitiv, was richtig ist. Wenn es sich richtig anfühlt, ist es auch richtig, egal, was Evidenz, Logik und Wissenschaft dazu sagen.
Dann kam die bullshit-Welle, angeführt von dem Buch Bullshit von Harry G. Frankfurt. Der Autor schrieb über das  bullshitting, das Blödsinnquatschen, das Rumpalavern, das Heiße-Luft-Produzieren, das "zu den auffälligsten Merkmalen unserer Kultur gehört", bei Wahlen und bei Werbung, im Fernsehen, im Web und in der Presse, und "jeder trägt sein Scherflein dazu bei."
Das Scherflein von wissenbloggt hieß Die Lügenkultur und befasste sich ernsthaft mit dem Thema: Die Religion hat uns keine Leitkultur beschert, sondern eine Lügenkultur; eine Unkultur aus Blendung, Heuchelei und Betrug.
Dann kam der große Auftritt der social bots als Lügenmaschinen. Bot ist die Abkürzung von "Robot", und dahinter stecken Internet-Programme, die sich z.B. bei Facebook automatisiert zu Wort melden. Sie verstecken sich hinter authentisch wirkenden Nutzerprofilen und sind nicht so leicht als Automaten zu erkennen. Als "digitale Dreckschleudern" verbreiten sie die elektronifizierten Lügen, die der Auftraggeber wünscht. Ganze "Bot-Armeen" werden billig gekauft und ferngesteuert, von Werbetreibenden, Geheimdiensten, Parteien, Politikern wie Trump und Clinton, von allen, die die öffentliche Meinung manipulieren wollen. Bei wb abgehandelt z.B. in Roboter & Propaganda.
Das letzte Schlagwort ist postfaktisch oder post-truth. Da stehen die Fakten nicht mehr im Mittelpunkt, sondern es zählt nur noch der Effekt der Aussage. Zu diesem Thema hat wb auch einen Artikel spendiert, So tun als ob.

Fazit: Die Lügenkultur triumphiert. Anstand, Redlichkeit und Wahrheit erodieren. In diese Situation fällt der aktuelle Artikel Zur Rezeption und Entlarvung pseudo-tiefsinnigen Bullshits (ScienceBlogs bloodnacid 18.11.). Hier wird eine Verfeinerung des Lügenprinzips abgehandelt, wie ein Beispiel illustriert: "Being is a constant. This life is nothing short of a redefining quantum shift of endless choice.” ("Sein ist eine Konstante. Dieses Leben ist nichts weniger als eine umdefinierende Quantenverschiebung endloser Wahlmöglichkeiten.")

Das ist intellektuell klingender, pseudo-tiefsinniger Bullshit (PTB). Der Artikel von Cornelius Courts ist eine Übersetzung von einem anderen, On the reception and detection of pseudo-profound bullshit (Judgment and Decision Making, Vol. 10, No. 6, 11/15, pp. 549–563).

Es geht um Eindruck schindende Erklärungen, die als wahr und bedeutungsschwer präsentiert werden, in Wirklichkeit aber hohl und nichtssagend sind. Eine feine Unterscheidung dabei: Obwohl beides keine Bedeutung besitzt, ist Bullshit nicht dasselbe wie Nonsens. Bullshit gibt wenigstens vor, eine Bedeutung zu haben. Ob man das als Qualitätsmerkmal gelten lassen mag, ist jedem selber überlassen.

Der Artikel handelt von den Untersuchungen der Original-Autoren um Pennycook. Sie setzten ihren Probanden selbst zusammengewürfelte PTB-Sätze vor, z.B. "hidden meaning transforms unparalleled abstract beauty" ("versteckte Bedeutung transformiert beispiellose, abstrakte Schönheit"). Und dann wurde die Qualität bewertet, sprich Tiefsinnigkeit und Bedeutungsschwere.

Die Skala ging von 1 bis 5, und als Mittelwert ergab sich 2,6. Mit anderen Worten, er lag zwischen "etwas tiefsinnig" und "recht tiefsinnig". Manche Probanden fanden die Sätze sogar "sehr profund" - Qualität setzt sich eben durch!

Ergänzt wurde das Verfahren durch "echten PTB aus der freien Wildbahn", mit ungefähr ähnlichem Ergebnis. Vielen Teilnehmern gelang es nicht, den PTB zu entlarven. Wunder was, wenn auch Redaktionen von wissenschaftlichen Fachzeitschriften auf Nonsens-Artikel reinfallen können.

Die Bullshit-Studie kalibrierte ihre Probanden mit echten tiefsinnigen Aussagen, um festzustellen, ob sie nicht sowieso alles als tiefsinnig einordnen würden. Dann wurden Korrelationen mit anderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Intelligenz, analytische, mathematische und kognitive Fähigkeiten, religiöser Glaube usw. durchgeführt.

Dabei wurden durchaus unterschiedliche "Bullshit-Empfänglichkeiten" (bzw. PTB-Sensitivitäten) festgestellt. Wer empfänglicher war, verfügte über weniger Reflektionsvermögen und kognitive Fähigkeiten, neigte stärker zu ontologischer Verwirrung, Verschwörungstheorien und religiösen oder paranormalen Glaubensvorstellungen und befürwortete eher alternative (d.h. Pseudo-)Medizin.

Die Tendenz, vage, bedeutungslose Aussagen tiefsinnig zu finden, ist demnach ein legitimes psychologisches Phänomen. In der Sprache der Studien-Autoren ist es "durchgängig mit zumindest einigen Variablen von theoretischen Interesse korreliert." Was die Bullshit-Experten nicht aussprechen: Bullshit tiefsinnig zu finden, ist ein Kennzeichen der Doofen.

Das besagt auch eine anderer Artikel des Autors Courts, Je intelligenter, desto weniger religiös (ScienceBlogs bloodnacid 14.10.). Laut Courts löste der Originalartikel eine Kontroverse aus. Z.B. wurde argumentiert, dass Aussagen, die für den einen Bullshit sind, für den anderen dennoch überaus tiefsinnig sein können. Kontra-Argument des Autors Pennycook: "Dass jemand eine Aussage für bedeutend hält, heißt nicht, dass sie kein Bullshit ist."

Abschließend ein Pro-Argument: "Die benötigte Energiemenge, um Bullshit zu widerlegen, ist um eine Größenordnung höher als die, um ihn in die Welt zu setzen" – das ist selbstverständlich ebenfalls Bullshit. Aber es klingt plausibel, wie echte Qualität. Unsere Politiker wissen das jedenfals schon lange, sollte man meinen.

Links dazu:
Die Lügenkultur
Roboter & Propaganda
Die „Impersonatoren“ sind da
Kreationisten-Bullshit
Halbes Mittelalter
So tun als ob
Das metamurphysche Prinzip (Humor)

Ergänzung: Fake News: Im Netz der Lügen (ZEIT ONLINE 22.11.): Flüchtlinge schlachten Schwäne? Manche Lügen auf Facebook sind leicht zu enttarnen, andere sind geschickte Fälschungen. Auf hoaxmap.org werden mehr als 400 widerlegt.
© Screenshot/hoaxmap.org