Foto: Screenshot von einer ORF-Diskussion am 12.3.2017
Niemals hat ein Projekt die Türkei so tief gespalten wie dieses von
Erdoğan vorangetriebene Verfassungsreferendum.
Wer die Türkei wirklich
liebt, hätte dem Land dieses Verfassungsreferendum erspart. In einer repräsentativen
Demokratie, deren Ziel es sein sollte, wirtschaftliche und soziale Vielfalt
zu erhalten und zu vertiefen, ist es politisches Gift, eine derartige grundlegende
politische Veränderung herbeizuführen.
Das am Sonntag angesetzte
Verfassungsreferendum hat die politische Zerrissenheit immens vergrößert
und einen Teil der Bevölkerung, die dieser Verfassungsveränderung
ablehnend gegenübersteht, ins existenziell bedrohliche Abseits katapultiert.
Niemals zuvor war die Türkei so tief gespalten wie seit der Ankündigung
zu dieser Verfassungsabstimmung.
Durch diesen Weg, den die im Machtrausch
befindlichen nationalistisch-islamistischen Eliten beschritten haben, geht es
mit der politischen Stabilität im In- und Ausland rasant bergab, analog
dazu die Wirtschaft. Die tiefe Spaltung des Landes wird noch viel ernstere Folgen
haben, vor allem für die aufgeklärten Stimmen in der Türkei.
Durch die autoritäre Politik der AKP wurde das Misstrauen gegen den Staat
und seine Organe noch mehr geschädigt. Das ohnehin schwach gereifte demokratische
Gemeinwesen in der Türkei hat einen irreparablen Rückschlag erlitten.
Geblendete
Türken
Die Spirale des Misstrauens wird von der AKP mit Rückenwind
aus Teilen der nationalistischen MHP weiter vorangetrieben. Durch die starke
Präsenz in den gelenkten Massenmedien und durch nationalistisch-islamistische
Trolle in den sozialen Netzwerken verbreiten die AKP und ihre Ableger Zwietracht,
Hetze und direkte und indirekte Aufrufe zu Gewalt gegen Andersdenkende.
Die
so geblendeten Türken verwechseln immer häufiger Unterstellungen mit
Fakten, Tatsachen mit Verleumdungen.
Erdoğan wird mit seiner geplanten Verfassungsänderung
den Weg der Intoleranz und Ineffizienz in der Türkei einbetonieren und
das Land noch stärker in Richtung Abhängigkeit vom Ausland führen.
Die unterzeichneten Milliardenverträge mit Saudiarabien und Katar, die
Annäherung an die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) sowie die Gründung
einer eigenen Stiftung, mittels der der Zugriff auf das gesamte Staatsvermögen
ermöglicht wird, sind jetzt schon Belege dafür, dass ein Ausverkauf
der Türkei eingeläutet ist.
Es gleicht dem Muster der Rechtspopulisten:
Nach außen hin wird das Bekenntnis zu Vaterland, Nation und Heimat bekundet,
hinter der Bühne aber wird der Ausverkauf forciert, um die eigenen Taschen
und jene der Günstlinge des Systems zu füllen.
Unabhängig
davon, wie das Referendum ausgehen wird: Die AKP unter Erdoğan übt Kontrolle
über den Staat, die Religion, Wirtschaft, Finanzen, Kultur und Medien aus.
Statt auf Minderheiten, Menschenrechte und Zivilgesellschaft Rücksicht
zu nehmen, schürt er Emotionen und vernichtet mit einer Mischung aus Islam
und Politik Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Medienfreiheit.
Die
Rechnung dafür werden die Türken zu tragen haben – und die Türkei,
die von potenzieller Vielfalt zur Einfalt verkümmert.
Anmerkung
atheisten-info: Efgani Dönmez (geboren 1976 in Sivas-Kangal, Türkei)
war von 2008 bis 2015 für die Grünen im Bundesrat, er wurde nach der
Landtagswahl 2015 von Grünen nicht mehr in den Bundesrat entsandt, u.a.
auch wegen grüner Solidarität mit Erdogan und seinen Anhängern,
die Dönmez heftig kritisiert hatte.
"Krone": Wir verfolgen gebannt die antidemokratischen Entwicklungen
in der Türkei. Was geschieht da eigentlich?
Efgani Dönmez: Die Türkei galt lang als Vorzeigebeispiel für
eine Vereinbarkeit von Islam und Demokratie. Mittlerweile ist dieses zarte Pflänzchen
zunichte gemacht worden. Die Politik der AKP entzweit nicht nur die türkische
Gesellschaft, sondern auch die Türken, die in ganz Europa verstreut sind.
"Krone": Die Türkei legt sich mit vielen Ländern an...
Efgani Dönmez: Ja, das sorgt für Chaos vor der Haustüre Europas.
Ausgenommen sind die reichen arabischen Golfstaaten, vor allem Saudi Arabien
und Katar - alles sehr reaktionäre, islamistische Länder, die enge
finanzielle und ideologische Beziehungen zur Türkei und zum Balkan pflegen.
"Krone": Die Türken in Österreich galten lange als Beispiel
für gelungene Integration. Bekommt das Bild Kratzer?
Efgani Dönmez: Ja, leider. Es gibt heute auch in Europa ein reaktionäres
nationalistisch- islamistisches Milieu. Das verändert unsere Gesellschaft,
das sollten wir nicht unterschätzen. Den aufgeklärten, säkularen
Türken wird der Atem abgeschnürt. Fast alle unsere Großparteien
haben Vertreter aus bekannten reaktionären Gruppierungen in ihren Parteistrukturen.
Sie halten aber ihre schützende Hand darüber. Das führt zu einem
doppelbödigen Spiel und zu vielen Scheindiskussionen. Unsere Politik reagiert
leider nur, anstatt wirklich zu handeln.
"Krone": Was sind mögliche Motive bei den Parteien dahinter?
Efgani Dönmez: Es ist eine Mischung aus Kalkül und Naivität.
Kalkül, weil diese Leute für eine Partei innerhalb kürzester
Zeit viele Wählerstimmen mobilisieren können. Und Naivität, weil
Einflüsse von nationalistisch- islamistischen Kräften sicher keine
kulturelle Bereicherung für uns sind. Im Gegenteil.
"Krone": Ich sehe, dass Kinder und Jugendliche - die Mädchen
mit Kopftuch - am Wochenende in türkische Ortsvereine in unseren Gemeinden
gehen. Was passiert dort?
Efgani Dönmez: Sie sind angehalten, am Wochenende, oft auch in den Ferien,
den Koran- Kurs zu besuchen. Sie müssen auswendig lernen, rezitieren und
werden hier von Leuten unterrichtet, die nicht immer eine pädagogische
oder theologische Ausbildung haben. Sie werden hier auch mit Gedankengut konfrontiert,
das sie gar nicht verstehen können. Man kann sich ausrechnen, was dabei
rauskommen kann.
"Krone": Sind diese Vereine denn wirklich unabhängig?
Efgani Dönmez: Wir wissen genau, dass viele dieser Vereine verlängerte
Arme der politischen Parteien aus der Türkei oder anderen Ländern
sind. Es sind Brückenköpfe einer nationalistisch- reaktionären
Gesinnung in Europa. Das Vereinsrecht wird missbraucht, wir hätten aber
ausreichend Gesetze, dem einen Riegel vorzuschieben.
"Krone": Wie sollen wir in Österreich damit umgehen?
Efgani Dönmez: Es gibt viele aufgeschlossene, offene Türken. Wir
können differenzieren. Wir sollten aufhören, die Menschen in Herkunft,
Religionszugehörigkeit und Ethnien einzuteilen. Unsere Werte der Aufklärung
- Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit, Gleichstellung und Selbstbestimmung
von Mann und Frau - sind hart erkämpft worden. Wer für diese Werte
eintritt, ist in einer offenen Gesellschaft eine Bereicherung, egal, woher er
stammt. Wer unsere Toleranz aber missbraucht, um hier eine islamistische Agenda
- und damit eine reaktionäre Gesellschaftsordnung zu implementieren - ist
eine Gefahr. Ihm sollte das Aufenthaltsrecht entzogen werden.
"Krone": Sie haben sich vom Arbeiterkind hochgearbeitet. Hat jeder
in Österreich die Chance, etwas zu werden?
Efgani Dönmez: Ja, ich halte nichts von der Opferrolle. Es wird einem
nichts geschenkt, wenn man Mustafa oder Fatma heißt, schon gar nicht.
Grundsätzlich kann jeder in diesem Land eine gute Ausbildung machen und
die Universität besuchen, wenn er nur will.
"Krone": Was ist Ihr Glaube?
Efgani Dönmez: Ich bin Moslem mit alevitischen Wurzeln und will aufrichtig
durch das Leben gehen. Von politisiertem Glauben halte ich nichts.
"Krone": Leben Sie gefährlich?
Efgani Dönmez: Ich muss mit Übergriffen rechnen. Aber ich versuche
dennoch immer, die Visionen, die ich habe, in die Realität umzusetzen.