Foto: © Evelin Frerk
Der Wiener Zoologe, Evolutionsbiologe und Wissenschaftstheoretiker Franz M.
Wuketits ist tot. Er starb am 7.6.2018 nach langer schwerer
Krankheit im Alter von 63 Jahren.
"Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst!" – Mit diesen Worten
hätte Franz M. Wuketits, den seine Freunde nur "Manfred" nannten (das
ominöse "M." in seinem Namen), wohl seinen eigenen Tod kommentiert. Ich
habe ihn diesen Satz unzählige Male sagen hören – und doch musste ich
immer wieder lachen, wenn er ihn mit seinem wunderbaren Wiener Schmäh
zum Besten gab. Selbst jetzt zaubert die Erinnerung an ihn ein Lächeln
auf mein Gesicht, obwohl mich die Nachricht von seinem Tod tief
erschüttert hat.
Ich traf Manfred das erste Mal Ende der 1990er Jahre auf einem der
wunderbaren Seminare, die Georg Batz in Nürnberg organisierte. Manfred
stellte damals sein Buch "Naturkatastrophe Mensch" vor, in dem er die
Evolution als "Zickzackweg auf dem schmalen Grat des Lebens" beschrieb.
Eigentlich war es von der Seminarleitung vorgesehen, dass ich den als
"zwanghaften Pessimisten" verschrienen Evolutionsbiologen aus
humanistischer Perspektive kritisieren sollte, aber ich erkannte
schnell, dass dieser Mann absolut richtig damit lag, jeglichen
"Fortschrittsautomatismus" nicht nur in der Natur, sondern auch in der
menschlichen Kultur zu bestreiten. (Manfred ging in dieser Hinsicht
deutlich weiter als Stephen Jay Gould in seinem etwa zeitgleich
erschienenen Buch "Illusion Fortschritt". Ich persönlich halte Manfreds
Werk, das 2009 unter dem treffenderen Titel "Evolution ohne Fortschritt"
neu aufgelegt wurde, für eines der besten Bücher, die zu diesem Thema
je geschrieben wurden, und kann es nur jedem empfehlen, der sich für
eine zeitgemäße Interpretation der Evolutionstheorie interessiert.)
Schon damals, bei unserem ersten Treffen in Nürnberg, entwickelte
sich eine tiefe Freundschaft zwischen uns. Davon habe ich in den
Folgejahren auch in intellektueller Hinsicht stark profitiert. Denn
Manfred gab mir, der ich bis dahin durch die Denkmuster der Sozial- und
Geisteswissenschaften geprägt war, den entscheidenden Impuls, mich
intensiver mit den Naturwissenschaften zu beschäftigen und die Gräben
zwischen den "drei Wissenskulturen" zu überwinden. Einen besseren Mentor
für dieses Unternehmen hätte ich mir kaum aussuchen können. Denn
Manfred war ein Meister des interdisziplinären Denkens. Er hatte in den
1970er Jahren nicht nur Zoologie und Paläontologie, sondern auch
Philosophie und Wissenschaftstheorie studiert. Nach der Promotion (1978)
und der Habilitation (1980) lehrte er u. a. an der Uni Wien, wurde
Gründungs- und Direktionsmitglied des "Konrad-Lorenz-Instituts für
Evolutions- und Kognitionsforschung" und veröffentliche rund 500
Aufsätze sowie über 40 Bücher, durch die er sich einen Namen machte als
einer der führenden Experten auf dem Gebiet der Geschichte und Theorie
der Biowissenschaften, der Evolutionstheorie, der evolutionären
Erkenntnistheorie und Ethik sowie der Soziobiologie.
2002 lud mich Manfred zur Tagung "Humanität – Hoffnungen und
Illusionen" ein, wo ich einen Vortrag zur "Perspektive des evolutionären
Humanismus" halten sollte. Ohne es beabsichtigt zu haben, löste Manfred
dadurch die Gründung der Giordano-Bruno-Stiftung aus, die 2004 auf der
Blaupause eben jenes Vortrags entstand. Selbstverständlich war Manfred
von Anfang an aktiv in die Stiftungsarbeit involviert. Tatsächlich war
er der allererste Beirat der gbs und motivierte viele seiner Kollegen
(u. a. Volker Sommer und Bernulf Kanitscheider) dazu, sich der Stiftung
ebenfalls anzuschließen. Im März 2004 war Manfred selbstredend auch der
erste Referent, der einen Vortrag (Thema: "Der Affe in uns") im neu
geschaffenen "gbs-Forum" hielt (damals noch am alten Stiftungssitz in
Mastershausen). Auch später übernahm Manfred zentrale Funktionen bei
wichtigen Stiftungsereignissen. So sprach er die Laudatio auf Richard
Dawkins bei der Verleihung des Deschner-Preises 2007 (dokumentiert in
Band 2 der gbs-Schriftenreihe) sowie die Laudatio auf Charles Darwin bei
dem Festakt zu dessen 200. Geburtstag in der Deutschen
Nationalbibliothek (siehe Band 3 der Schriftenreihe).
In den 20 Jahren, die wir uns kannten, habe ich Manfred in seinen
vielen, mitunter auch skurrilen Facetten schätzen gelernt: Er war ein
blitzgescheiter, umfassend gebildeter Intellektueller, von dem man
unglaublich viel lernen konnte, ein Wiener Original, dem es schwer zu
schaffen machte, dass man in den Kaffeehäusern nicht mehr rauchen
durfte, ein unverbesserlicher Freigeist, der sich gegen jede Form der
Bevormundung zur Wehr setzte (auch wenn er gerne das "Lob der Feigheit"
predigte), ein fanatischer Büchernarr, der stundenlang in einem
Antiquariat verbringen konnte, ein wunderbar komischer Kauz, der erst am
späten Abend wach wurde (weshalb er nur selten Seminare vor 18.00 Uhr
abhielt), ein echter Schlawiner, der die Menschen mit seinen pfiffigen
Formulierungen immer wieder zum Lachen bringen konnte.
In den letzten Jahren haben wir uns leider seltener gesehen, vor
allem, nachdem er seit dem Sommer 2017 mit den Symptomen seiner schweren
Krebs-Erkrankung zu kämpfen hatte, die ihn dazu zwang, viele Termine
abzusagen. Zuvor aber haben wir ganze Nächte durchdiskutiert, unendlich
viel gescherzt, gelacht, getrunken, geraucht. Oft trennten wir uns erst
in den frühen Morgenstunden. Bei den Stiftungstreffen waren wir stets
die Letzten, die ins Bett gingen. Wirklich übertrieben haben wir es
selten – mit einer Ausnahme vielleicht, als wir in der Stiftungsbar
zwischen vier und fünf Uhr morgens versehentlich eine 75 Jahre alte
Portweinflasche leerten, die aus dem Geburtsjahr von gbs-Gründer Herbert
Steffen stammte. Glücklicherweise war Herbert über unser Malheur
keineswegs erbost, sondern höchst amüsiert ("Ich hätte nicht gedacht,
dass man das alte Zeug noch trinken kann!"). Selten hat man Manfred so
erleichtert erlebt.
Ich werde die Gespräche mit Manfred vermissen. Er war einer jener
Menschen, dem ich neidlos einen Exklusivanspruch auf ewige Gesundheit
zugebilligt hätte. Gestern ist er in den Armen seiner Frau gestorben.
Ich kann es kaum fassen, dass er tot ist.