"Der
Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer", Radierung von Francisco de Goya
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Die Vernunft ist auf dem Rückzug,
immer öfter werden Entscheidungen moralisch begründet. Das ist besorgniserregend
und gefährlich. Wo nicht rational argumentiert, sondern moralisiert wird,
steht die Zukunft menschlichen Zusammenlebens auf dem Spiel.
Mit
der Vernunft ist es so eine Sache. Der Begriff bezeichnet die menschliche Fähigkeit,
durch Denken zur Erkenntnis zu gelangen und an dieser das eigene Handeln auszurichten.
Vernünftiges Denken beinhaltet einen Anspruch auf begründbar richtiges
Handeln.
Nun lässt sich kaum behaupten, dass Menschen als Individuen
und in Gruppen immer vernünftig handelten, ganz im Gegenteil. Dennoch galt
Rationalität seit dem Zeitalter der Aufklärung weithin als Leitbild
individuellen und kollektiven Handelns. Vernunftgeleitetes Handeln versprach,
den Anforderungen der Realität am ehesten gerecht zu werden.
Seit
einigen Jahren verblasst dieses Leitbild. Nicht nur in Deutschland wird in Gesellschaft
und Politik immer weniger rational argumentiert und immer mehr moralisch. Wo
die rationale Argumentation versucht, den besten Weg zum Erreichen des Zwecks
zu ergründen, und dabei auch unterschiedliche Positionen und Interessen
miteinander vereinbaren kann, kennt das moralische Argumentieren nur die Extreme
Gut und Böse.
Beispiele für diese Entwicklung gibt es zuhauf.
In der Außenpolitik muss man nur auf US-Außenminister Mike Pompeo
blicken, der im Ernst behauptet, dass die USA mit ihrem Erdgas im Gegensatz
zu anderen Werte exportiere, während
andere böse Zwecke verfolgten. Und Präsident Donald Trump sei von
Gott geschickt worden,
um das jüdische Volk zu schützen.
Auch in Deutschland breitet
sich diese Rhetorik aus. Bereits vor 20 Jahren hatte man den Angriff auf Jugoslawien
perfiderweise damit begründet, ein "neues Auschwitz" verhindern
zu müssen. Dieser Tage nannte die Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt
die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg eine "Prophetin". Die
Ikonisierung und Verehrung der jungen Schwedin lässt ohnehin tief blicken.
Statt sich in der energiepolitischen Debatte mit Argumenten aufzuhalten, greift
man auf eine Heilsfigur zurück.
Ging es bei der Jungfrau von Orléans
vor 600 Jahren nur um Frankreich, soll die kleine Greta heute symbolhaft gleich
die ganze Welt retten. Das ist so irre, wie es klingt, und es ist tatsächlich
eine Rückkehr ins Mittelalter und eine Abkehr von den Werten der Aufklärung.
Womöglich sind wir wirklich am Ende des Zeitalters angekommen, das spätestens
mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert begonnen hatte. Die Vernunft jedenfalls
ist auf dem Rückzug.
Als Ursache für diese Entwicklung kann
man sicher ein Bedürfnis der Gesellschaft annehmen, eine aus den Fugen
geratende Welt durch die Orientierung an klaren Kategorien wie Gut und Böse
wieder überschaubar zu machen. Vor allem aber ist die Entwicklung auch
Ergebnis der Moralisierung politischer Fragen durch Politiker und Interessengruppen.
Zum Teil verdeckt sie eine Politik im Interesse des Finanzkapitals, die sich
rational gegenüber den Wählern nicht begründen lässt.
Das
Ganze ist nicht neu. Schon im Kalten Krieg waren diese Kategorien auf beiden
Seiten gängig, allerdings konnte man dabei sehr wohl noch rational handeln
bzw. verhandeln und sich dabei in die Rolle des anderen hineinversetzen. Diese
Fähigkeit scheint heute zunehmend verloren zu gehen.
Die Tendenz
zur Moralisierung ist beunruhigend, und sie ist gefährlich. Wer sich selbst
mit dem Guten und das Gegenüber mit dem Bösen identifiziert, wird
kaum einen Grund haben, unterschiedliche Interessen auszumachen und zu diskutieren,
er wird sich im Recht sehen, den anderen an sich zu negieren und gegebenenfalls
zu bekämpfen - das gilt im Kleinen wie im Großen.
Darüber
hinaus aber geht durch das ständige Moralisieren die Fähigkeit verloren,
zu rational begründbaren, angemessenen Entscheidungen zu kommen. In Deutschland
werden Gesetze beschlossen, die den Begriff "Gut" im Namen führen,
bei anderen Gesetzen wird auf das Gesetzbuch Nummer 13 verzichtet,
weil diese als Unglückszahl gilt. Gleichzeitig lässt ein Blick
auf die Energie-, die Migrations- oder auch die Verkehrspolitik daran zweifeln,
dass überhaupt noch nach rationalen Kriterien entschieden wird.
Die
Folgen zeichnen sich bereits ab. Wer sich mit der hier skizzierten Entwicklung
nicht abfinden will, dem bleibt nicht viel mehr, als an rational begründeten
Argumenten festzuhalten und immer wieder die Diskussion zu suchen. Das ist
weder einfach noch angenehm. Doch es gilt immer wieder klarzumachen, dass Moralisieren
allzu oft den Weg zu unmoralischem und letztlich zerstörerischem Handeln
eröffnet, um diesem Irrweg ein Ende zu bereiten.