Religionsfreiheit contra religiöse Dominanz

Die jetzt im Februar 2020 erschienene Nummer 4/2019 der Quartalsschrift MIZ (Materialien und Informationen zur Zeit - Politisches Magazin für Konfessionslose und Atheisten) brachte sechs zusammenfassende Punkte zur Religionsfreiheit, die es verdienen, weiterverbreitet zu werden!

Verfasst von Gerhard Rampp:
Warum Religionsgesellschaften gar kein Interesse an voller Religionsfreiheit haben

Wenn der Vatikan die Beziehungen zu Staaten definiert, steht die Forderung nach Religionsfreiheit an erster Stelle. Gemeint ist damit meist nur das Recht der Kirche, nach eigenem Gutdünken schalten und walten zu dürfen, ohne dass sich der Staat in kirchliche Angele­genheiten einmischt - während sich die Kirche sehr wohl in staat­liche Angelegenheiten einmischen will. In Wirklichkeit ist der Begriff "Religionsfreiheit" aber weit umfassender, als die Kirchen glauben machen wollen.

1. Religionsfreiheit ist ein Recht von Individuen und nicht von Organisationen
Originär kann sich nur eine natürliche Person zu einem Glauben bekennen, erst danach können sich Gleichgesinnte zu einer Gruppe zusammenschließen. Im Grundgesetz ist die Glaubensfreiheit im Wesentlichen in den Grundrechtsartikeln 3 und 4 geregelt, die Belange der Religions­gesellschaften hingegen sind erst in Artikel 140 angehängt. Im Extremfall kann eine Person ihr religiöses Selbstbestimmungsrecht auch gegen die eigene Glaubensgemeinschaft zur Geltung bringen.

2. Religionsfreiheit ist Meinungsfreiheit in einem speziellen Teilbereich
Erst seitdem das Grundrecht auf Meinungsfreiheit in der Aufklärung postuliert wurde, kam auch die Religionsfreiheit auf die Tagesordnung. "Ihre Meinung ist das genaue Gegenteil der meinigen, aber ich werde alles daransetzen, dass Sie Ihre Meinung sagen können", schrieb Voltaire einem Kontrahenten. Gleiches hat für den Stellenwert weltanschaulicher Bekenntnisse zu gelten. Implizit wird damit zugestanden, dass jede religiöse Überzeugung im Diskurs mit Andersdenkenden eine persönliche Meinung, nicht aber eine bewiesene Wahrheit ist. In der säkular gewordenen Gesellschaft wird diese Auffassung heute allgemein geteilt; vor allem junge Menschen betrachten Religionen ganz überwiegend als Systeme, die auf Vermutungen beruhen.

3. Religionsfreiheit ist definiert als Recht, sich zu einer Religion zu bekennen
Auf diesen Kern beschränkt sich zumeist das Verständnis der Reli­gionsgemeinschaften. Er schließt auch das Recht ein, sich im öffentlichen Raum zu äußern - soweit die Rechte anderer nicht eingeschränkt werden, wie z.B. bei weltlichen Veranstaltungen an "stillen Tagen". Die Grenze lässt sich am früheren und aktuellen Verhalten der Zeugen Jehovas gut darstellen: Ihre Hausbesuche haben sie eingestellt, nun präsentieren sie sich oft zu dritt mit Plakaten auf belebten Plätzen. Ersteres ist unzulässige Belästigung, letzteres durch Meinungsfreiheit gedeckt.

4. Religionsfreiheit schließt das Recht auf Wechsel der Religion ein
Dieses wichtige Grundrecht ist in allen Menschenrechtserklärungen verankert. Dagegen verstoßen aber nicht nur viele islamische Gemeinschaften, sondern auch die katholische Kirche. Wer aus ihr austritt, erhält nicht selten ein Schreiben der zuständigen Pfarrei, in dem auf die ewige Gültigkeit der Taufe hingewiesen wird, aus der man gar nicht austreten könne. Der säkulare Staat hat sich gegenüber dieser Position nur teilweise abgegrenzt: Er schaffte ein Recht auf Kirchenaustritt, beschränkte es aber in seiner Wirkung auf die Kirchensteuerpflicht. (Ein "Kirchenaustritt" ist also - entgegen dem Wortlaut - gar kein Austritt aus der Glaubensgemeinschaft, sondern nur aus der Kirchensteuerpflicht!)
Jedenfalls wird nun verständlich, warum sich der Vatikan seit Jahr­zehnten hartnäckig weigert, die Men­schenrechtskonvention des Europarats von 1950 zu unterzeichnen.

5. Religionsfreiheit schließt das Recht auf völligen Verzicht auf Religion ein
Diese Selbstverständlichkeit erkennt die katholische Kirche inzwischen an. Das Religionsverfassungsrecht spricht hier von einer gleichrangigen "negativen Religionsfreiheit", die in Wirklichkeit aber kein separates Rechts­gut ist, sondern Teil der einen Reli­gionsfreiheit ist. Doch gibt es z.B. im Umkreis der Piusbruderschaft Kleriker, die noch heute die Todesstrafe für "Glaubensabtrünnige" fordern und damit einem erheblichen Teil der islamischen Sunniten nicht nachstehen. Und auch Politiker unterschiedlicher Parteien missachten in der Praxis die Religionsfreiheit nichtgläubiger Menschen. So diffamiert der frühere Spitzenpolitiker der Linken, Gregor Gysi, Gottlose regelmäßig als "moralfrei", und der niederbayerische CSU-Bundestagshinterbänkler Irlstorfer beschimpft Konfessionslose als unmoralische Existenzen, die noch schlimmer seien als Muslime.

6. Religionsfreiheit ist ein höchstpersönliches Recht, das auch Kindern zusteht
Das Bewusstsein, dass auch Kinder unveräußerliche Grundrechte haben, ist in unserer Gesellschaft noch nicht angekommen. In den drei wichtigen Menschenrechtserklärungen Mitte des 20. Jahrhunderts (UN-Charta, Artikel 1 bis 19 des Grundgesetzes, Menschenrechtskonvention des Europarats) findet sich dazu nichts. Kinder galten lange Zeit als Eigentum der Eltern. Erst mit der UN-Kinderrechtskonvention (verabschiedet 1989, in Kraft getreten 1995) hat sich die Sichtweise etwas geändert. Selbstverständlich haben die Eltern ein Erziehungsrecht, aber damit kein Monopol auf Erziehung, wie dies z.B. die evangelikalen "besorgten Eltern" meinen. Kinder haben Anspruch auf Informationen auch aus anderen Quellen: Durch den Schulunterricht dürfen demokratische Werte vermittelt werden, die Gleichaltrigen ("peer group") und die Medien werden Kinder später ebenfalls prägen.
In weltanschaulicher Hinsicht dürfen Eltern also ihre Kinder durchaus beeinflussen. Die letzte Entscheidung im Alter der Religionsmündigkeit muss aber bei den Kindern liegen. Kinder zu taufen, solange sie noch nicht selbst entscheiden können, ist demnach - streng genommen - ein Eingriff in deren Selbstbestimmungsrecht. Man kann darüber diskutieren, ob eine Säuglingstaufe (als rein symbolisches Ritual) eventuell noch hinnehmbar sei. Keinesfalls gilt dies aber für eine daraus abgeleitete Kirchensteuerpflicht des religionsunmündigen Kleinkindes. Da hat sich der Staat strikt herauszuhalten. Die Länder könnten ohne kirchliche Zustimmung regeln, dass Kirchensteuer erst ab 14 oder 16 Jahren und nur mit eigenhändig unterzeichneter Beitrittserklärung der betroffenen religionsmündigen Person erhoben werden darf.

Fazit: Die Kirchen geben sich zwar gern als Hüterinnen der Glaubensfreiheit aus, doch erst mit der Umsetzung aller sechs genannten Teilaspekte gäbe es sie tatsächlich. Das liegt aber nicht im Interesse religiöser Organisationen, denn weltanschaulich autonome Jugendliche träten ihnen nur noch zu einem kleinen Teil bei.

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