Christlicher Nationalismus ist in den USA weit verbreitet. Ohne ihn ist die Erstürmung des Kapitols durch fanatische Trump-Anhänger nicht zu verstehen, so der US-amerikanische Anwalt und Buchautor Andrew L. Seidel im Interview mit dem hpd.
hpd: Die Erstürmung des US-Kapitols am 6. Januar durch Trump-Anhänger
hat die Welt schockiert – und wohl auch die meisten Amerikaner. Natürlich
fragt sich nun jeder, wie so etwas überhaupt passieren konnte. Wie würden
Sie diese Frage beantworten, Herr Seidel?
Andrew L. Seidel: Ich war sowohl überrascht als auch völlig unüberrascht.
Trump hat bei seinen Kundgebungen zu Gewalt aufgerufen, als er gegen Clinton
antrat. Er nannte gewalttätige weiße Rassisten "sehr feine Leute".
Er sagte den "Proud Boys", sie sollten sich zurückhalten aber
auch bereithalten. Trump hat all diese Dinge mit Absicht gesagt. Trumps Rhetorik,
Trumps Lügen, Trumps stochastischer Terrorismus brachten einen Mob von
aufständischen Trump-Anhängern dazu, das US-Kapitol zu belagern und
zu erstürmen. Sogar ein Sprengsatz wurde dort gefunden. Einer Frau hat
man in den Hals geschossen. Sie war dort, weil Trump gelogen hat. Trump hat
gelogen und diese Frau ist gestorben. Genau wie drei weitere Menschen. Es war
verblüffend zu sehen, wie unbekümmert dieser Mob war und wie sehr
er sich im Recht fühlte. Privilegiert. Dieses Gefühl, im Recht zu
sein, resultierte daraus, dass die Menschen meinten, auf Befehl des Präsidenten
zu handeln. Sie taten die Arbeit, zu der ihr lieber Führer sie aufgerufen
hatte.
hpd: Während die atemberaubenden Ereignisse in Washington D.C. stattfanden,
erwähnten Sie auf einem Ihrer Social-Media-Kanäle, dass man "nicht
verstehen kann, was gerade im Kapitol passiert, ohne den christlichen Nationalismus
zu verstehen". Was ist dieser "christliche Nationalismus" und
was hat er mit den Trump-Anhängern zu tun, die das Kapitol erstürmt
haben?
Seidel: Der christliche Nationalismus ist eine politische Theologie, die
auf der Behauptung basiert, dass Amerika als christliche Nation gegründet
wurde, dass es auf jüdisch-christlichen Prinzipien basiert und – das ist
am wichtigsten – dass wir vom Weg dieses Fundaments abgekommen sind,
dass Amerika sich von seinen göttlichen Wurzeln entfernt hat. Christliche
Nationalisten verwenden das Bild der Rückkehr, um die hasserfüllte
öffentliche Politik zu begründen, vom Einreiseverbot aus muslimischen
Staaten bis zur Trennung von Kindern und ihren Eltern, die Generalstaatsanwalt
Jeff Sessions unter Berufung auf die Bibel rechtfertigte – so wie er es in den
Bibelstunden des Weißen Hauses https://archive.thinkprogress.org/white-house-bible-study-group-trump-child-separation-policy-24de236c4824/
gelernt hat.
Der Angriff auf das US-Kapitol war der Höhepunkt dieser Welle des christlichen
Nationalismus. Ich bin schon lange der Meinung, dass der christliche Nationalismus
eine existenzielle Bedrohung für die amerikanische Republik ist. Der 6.
Januar hat gezeigt, dass das stimmt. Einer der Randalierer trug die christlich-nationalistische
Flagge in die Senatskammer. Ein anderer hatte ein "Jesus 2020"-Schild.
Vor dem Michigan Capitol, wo eine ähnliche Gruppe vor Monaten verhaftet
wurde, weil sie geplant hatte, den Gouverneur zu entführen und zu töten,
errichteten sie ein drei Meter hohes Kreuz. Ihre Schilder verkündeten "Jesus
Saves" und waren mit Bibelversen übersät.
The Atlantic interviewte einen Texaner, der erklärte, dass das Land
auseinander fiele, und dass diese Auflösung die Endzeit vorhersage. "Es
steht alles in der Bibel", sagte er. "Alles ist vorhergesagt. Donald
Trump ist in der Bibel. Machen Sie sich bereit." Der Journalist Jeffrey
Goldberg, der persönlich vor Ort war, schrieb: "Die Verquickung von
Trump und Jesus war ein gemeinsames Thema auf der Kundgebung. 'Applaudiert,
wenn ihr an Jesus glaubt!', schrie ein Mann in meiner Nähe. Die Leute jubelten.
'Applaudiert, wenn ihr an Donald Trump glaubt!' Lauter Jubel." Die Schlagzeile
von Sojourners lautete: "Sie drangen in das Kapitol ein und riefen: 'Jesus
ist mein Retter. Trump ist mein Präsident.'" Das haben sie nicht nur
gesagt, es stand auf einer Fahne, die sie vor dem Kapitol schwenkten. Christianity
Today drückte es so aus: "In der Mitte des zweitägigen Jericho-Marsches,
bei dem die Teilnehmer um die Regierungsgebäude pilgerten, um für
einen Sieg von Trump zu beten, beteten die Mitglieder des Kongresses für
ihre eigene Sicherheit vor dem gewalttätigen Mob in den Schutzräumen
des Kapitols."
Haben wir eine Regierung DES Volkes, FÜR das Volk und DURCH das Volk
oder ist es eine Regierung der Christen, für die Christen und durch die
Christen? Das ist der Kampf, den wir führen. Gerade jetzt befindet sich
Amerika in einer verzweifelten Schlacht gegen den christlichen Nationalismus,
eine politische Theologie, die eine existenzielle Bedrohung für unsere
Republik darstellt. Das ist der Grund, warum ich das Buch "The Founding
Myth" geschrieben habe. Gerade in dieser Woche sehen wir den christlichen
Nationalismus in Aktion und die Bedrohung, die er darstellt. Christlicher Nationalismus
ist keine wissenschaftliche Debatte über unsere Wurzeln, es ist ein Angriff
auf das, was wir sind. Sein Ziel ist es, Amerika entsprechend der christlich-nationalistischen
Identität neu zu definieren und dann das Gesetz entsprechend umzugestalten.
hpd: Aber haben diese christlichen Nationalisten nicht irgendwie Recht, dass
- ob wir es nun mögen oder nicht - das Christentum irgendwie Teil der DNA
der Vereinigten Staaten ist?
Seidel: Die christlichen Nationalisten argumentieren nicht, dass das Christentum
Teil unserer Kultur ist, sondern dass es die Grundlage unseres Staats ist. Und
nicht nur das, sondern auch, dass unsere Regierung nicht ohne das Christentum
und ohne die Anerkennung der Vorherrschaft des Christentums und der Christen
funktionieren kann. Ich erkläre dies in der Einleitung von "The Founding
Myth": "Die Regierung und die Gesetze unseres Landes sind etwas anderes
als seine Gesellschaft und Kultur. Es gibt einen Unterschied zwischen unserer
verfassungsrechtlichen (oder gesetzlichen) Identität und unserer gesellschaftlichen
(oder sozialen und kulturellen) Identität. Ich behaupte nicht, dass Religion
nicht Teil unserer Kultur wäre. Tatsächlich vertraten einige Gründerväter
die Auffassung, dass Religion für eine geordnete Gesellschaft notwendig
sei (eine elitäre und falsche Auffassung, wie wir sehen werden). Was ich
dagegen zeigen werde, ist, dass Religion nicht Teil unserer verfassungsrechtlichen
Identität ist und dass viele Aspekte der christlichen Religion mit dieser
in Konflikt stehen."
Andrew L. Seidel: The Founding Myth
hpd: Zurück zu den Trump-Anhängern. Nicht nur das Christentum ist
Teil ihrer Identität, sondern auch eine ganze Menge seltsamer Verschwörungstheorien.
Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen beidem? Könnte das Christentum oder
Religion als solche eine Art Einstiegsdroge für irrationales Denken sein?
Seidel: Auf jeden Fall. Das vor dem Kapitol war eine Menschenmenge, die zum
allergrößten Teil aus Weißen bestand. Das war eine QAnon-Menge.
Diese Ideologien sind eng mit dem christlichen Nationalismus verwoben und verflochten.
Wenn man von christlichem Nationalismus spricht, spricht man von weißem
christlichen Nationalismus. Über die Überschneidung von Religion und
QAnon habe ich das Folgende geschrieben: "Der religiöse Geist ist
darauf vorbereitet, Lügen zu akzeptieren. Mit einer außergewöhnlichen
Behauptung konfrontiert, verlangt er keine außergewöhnlichen Beweise,
sondern setzt stattdessen den Glauben ein, um die Skepsis zu überwinden.
Ihre Religion hat die Evangelikalen gelehrt, eher zu akzeptieren, als zu hinterfragen.
Trumps permanenter Schwall von unverhohlenen Lügen traf auf empfängliche
Gemüter. Seine Unterstützung war unter regelmäßigen Kirchgängern
größer als unter lauwarmen Gläubigen. Je größer der
Glaube, desto unwichtiger eine gesunde Skepsis. Der biblische Fetisch für
Totalitaristen mag also dazu beigetragen haben, dass Amerika seinen ersten wählte."
hpd: Würden Sie zustimmen, dass Ihr Land gegenwärtig unter einer
Pandemie des Irrationalismus leidet? Und wenn ja: Wie kann es geheilt werden?
Seidel: Das Problem mit der Pandemie-Anspielung ist, dass sie suggeriert,
es würde sich um etwas Passives handeln, das uns zustößt, und
nicht um etwas, das uns absichtlich zugefügt wird. Seit Jahrzehnten haben
christliche Nationalisten die amerikanische Bildung und die öffentlichen
Schulen angegriffen. Amerika muss in die Bildung investieren, aber das ist nur
eines von vielen Dingen, die wir ändern müssen.