Linkes Hirn, rechtes Hirn

Notizen aus dem schwarzen Loch Nr.475

Aussendung von Peter Ripota vom 26.11.2022

Wir haben zwei Nieren, zwei Augen, zwei Ohren, zwei Lungenflügel usw. Wozu brauchen wir zwei (offenbar recht unterschiedliche) Gehirne?
Der Mythos über unser Gehirn sieht so aus: links denken wir, rechts fühlen wir. Ganz so einfach ist die Sache aber nicht, ganz so festgelegt sind wir auch nicht. Dennoch haben unsere Hirnhälften unterschiedliche Funktionen. Aber welche und wozu?
Jedes Lebewesen braucht im Grunde zwei große Strategien zum Überleben: etwas zum Fressen finden (Pflanzen oder Beute); und dem Gefressenwerden entgehen. Beide Strategien benötigen ganz unterschiedliche Herangehensweisen:
- Um ein Beutetier zu fangen (aber auch, um sich eine Banane zu holen), bedarf es der Konzentration, Ausdauer, Überlegung, und Planung. Falls in einer Gruppe gejagt wird, gehört zu den erforderlichen Fähigkeiten auch noch das Kommunizieren mit den Jagdgenossen. Ganz anders Ziel 2:
- Um Fressfeinden (oder Übelwollenden aus der eigenen Sippe) zu entkommen, braucht es ständige Wachsamkeit, intuitives Reagieren auf ungewöhnliche Bewegungen oder Gegebenheiten, Kreativität, schnelles Handeln ohne lange Überlegungen, und ein allumfassendes Weltbild mit einem Verständnis für die allgemeine Weltlage.
Und so haben wir auch schon die Funktionen der beiden Hirnhälften beschrieben, oder sagen wir besser: der beiden Hirnfunktionskomplexe: Das linke Gehirn, wo auch das Sprach- = Kommunikationszentrum liegt, erlaubt uns das Beutegreifen. Das rechte Gehirn erlabt uns die Erkennung von Gefahren durch die intuitive, ganzheitliche, sprachlose Erfassung der Welt.

Der Psychiater, Gehirnforscher und Literaturdozent Iain McGilchrist hat in seinem Buch "The Master and His Emissary. The Divided Brain and the Making of the Western World" (2009) aber nun festgestellt, dass diese Beschreibungen zwar stimmen, nicht aber unsere Hochschätzung oder Verachtung derselben. Für uns westliche Menschen sind Denken, Sprache, Logik hohe Werte, wohingegen wir Intuition, Ahnungen und Spontaneität lieber den Kindern, den Frauen und den Künstlern überlassen. Doch für McGilchrist ist es gerade umgekehrt: Der "Meister" sitzt rechts im Kopf, der Diener links. So war es jedenfalls, als der Mensch zum Menschen wurde. Dann aber setzte eine biologische, wohl eher: kulturelle Fehlentwicklung ein, und der linke Teil wurde zum Alles-Beherrscher, mutierte zum Bewusstsein, zum Ich und Überich, während die rechten Fähigkeiten ins Unterbewusste verbannt wurden. Mathematik und Denksportlösungsfähigkeiten werden heute höher geschätzt als Kreativität, Impulsivität, Intuition und Kunst. Und so sollte es NICHT sein.
Auch der sogenannte "Balken" (Corpus Callosum), der die beiden Hirnhälften verbindet, bringt keinen Ausgleich zwischen den beiden wichtigen Strategien. Im Gegenteil, die meisten Nervenfasern dieses Hirnteils sind inhibitorischer Natur, d.h., sie hindern die andere Hälfte an irgendwelchen Prozessen (Übertreibungen?). Oder aber das Gehirn sagt: Konzentrierte dich aufs Beutegreifen oder aufs nicht gebeutet werden. Bitte kein Multitasking, das verlangsamt nur die nötigen Prozesse. Dann entkommt die Beute, oder du wirst selber eine.
Kurz zusammengefasst: Mit dem rechten Hirn erleben wir die Wert, mit dem linken gestalten wir sie. Mit dem rechten Hirn sehen wir die Welt in Metaphern, mit dem linken in präzisen Begriffen. Das rechte Hirn arbeitet ganzheitlich und kann mit Widersprüchen (Paradoxien) gut umgehen. Das linke Hirn arbeitet punktuell und akzeptiert nur, was in seine strenge Logik passt. Das rechte Hirn ist umfassend und sozial, das linke ausschließend und isoliert. Das rechte Hirn sollte der Meister sein, das linke sein Diener. Doch bei uns ist es genau umgekehrt, mit teils fatalen Folgen.
Zum Beispiel Intoleranz: Was nicht in das Weltbild des linken Hirns passt, wird abgewiesen, klein gemacht, verleugnet, bekämpft. Die Welt wird ärmer; statt des Rundblicks sieht der moderne Mensch durch die Röhre seiner Vorurteile. Die Übersteigerung der Herrschaft des linken Hirns sehen wir in Krankheiten wie Autismus, Schizophrenie und ADHS. Der Autist unterwirft alles seiner Ordnung, seinen Regeln, seiner Verengung; er dreht durch, wenn die Welt anders ist als er sie haben muss. Der Schizophrene hat den Blick so verengt, dass einzelne Wahrnehmungen ihn überwältigen, und er sich geistig eine Welt aufbaut, in der diese Einzelteile Sinn haben, so bizarr (und gefährlich) diese Welt auch sein mag. Menschen mit ADHS leiden an einer Fehlfunktion der Aufmerksamkeitssteuerung und am Mangel an Sozialkontakten.
Was wäre dagegen zu tun? Zum Beispiel: mehr Märchen erzählen (nein, keine 'fake-news', richtige schöne Geschichten fern der Wirklichkeit). Oder Tango tanzen. Denn dieser Tanz bereitet dem westlich gebildeten Menschen die meisten Probleme. Er und sie müssen lernen, das Denken abzustellen, dafür intuitiv und kreativ auf die Gesamtsituation zu reagieren und sprachlos die Welt zu erfassen und zu gestalten. (Es gibt ja eine Ersatzsprache: die Musik). Das ist mühsam, und viele lernen es nie. Doch die Gabe, die Welt anders erfassen zu können, ist ein großes Geschenk.
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