"Die Summa seines Denkens: Abdel-Samads bislang wichtigstes Buch".
Dieser Ankündigung des Verlages, die vom Autor vermutlich gutgeheißen wird,
werden die meisten Leser und Leserinnen, bei gleichzeitiger Kenntnis seiner
anderen Bücher, zustimmen. Das Werk trägt den Untertitel "Eine kritische
Geschichte", bietet darüber hinaus aber sehr viel mehr: Themen der Religionswissenschaft,
Philosophie, Soziologie und Erkenntnistheorie sowie auch der historischen und
zeitgenössischen Aufklärung ergänzen die geschichtlichen Ausführungen und
helfen, den Islam in seinen vielschichtigen Aspekten und vielfältigen Erscheinungen
besser zu verstehen. Sie beleuchten seine Bedeutung im Positiven als in weiten
Teilen friedliche, wie auch Negativen, als teilweise radikal fundamentalistische
Religion mit hohem Gewaltpotential. Hamed Abdel-Samad benennt sehr klar die
mit Islamismus verbundenen Gefahren und entwickelt ein breites, von Optimismus
getragenes Szenarium notwendiger Reformen als Voraussetzung für ein gedeihliches,
auch befruchtendes Miteinander der islamischen und nicht-islamischen Bevölkerung
in Europa und der ganzen Welt.
"Ich habe früher den Standpunkt vertreten, dass eine Reform des Islam
unmöglich sei. Weil auch ich von der Religion und ihren Texten ausgegangen
bin, was ich aus heutiger Sicht als Fehler betrachte. Denn ich habe dabei die
Menschen, ihre spirituellen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen
Bedürfnisse zu wenig beachtet. Dabei kann alles, was von Menschen gemacht ist,
reformiert werden. Und Religion ist nun einmal ein menschliches Produkt"
(S. 282).
Diese Schlüsselaussage kennzeichnet die Intention des Autors, breit angelegtes
Wissen zum Islam in seiner geschichtlichen und zeitgenössischen Bedeutung als
große Weltreligion zu vermitteln und gleichzeitig auch – in unmissverständlicher
Sprache – die von islamischem Fundamentalismus ausgehenden Gefahren aufzuzeigen.
Hamed Abdel-Samad beantwortet nicht die Frage, ob der Islam gut oder böse ist,
sondern beschreibt dessen Entstehung und Entwicklung mit ihren zahlreichen Umwälzungen,
die sich, stark verkürzt, als "Entfesselung, Ausdehnung, Zivilisierung,
Spaltung, Isolation, Selbstblockade sowie fehlgeleitete Reformversuche"
darstellen lassen und letztendlich in eine Suche nach einem neuen Platz in der
Welt münden. In historischem Kontext ist der Islam, politisch gesehen, eine
Folge von Stammeskonflikten auf der arabischen Halbinsel und wirtschaftlich
betrachtet ein Produkt der Handelsstraße zwischen dem Jemen und Syrien. Theologisch
gesehen entstammt er spätantiken christlichen Debatten im Byzantinischen Reich;
zivilisatorisch hat er sehr viel vom persischen Sassaniden-Reich übernommen,
wobei der Prägung durch die Wüste Arabiens mit ihren Gesetzen, Ritualen, Träumen
und Konflikten große Bedeutung zukam.
Das Buch gliedert sich neben Vorwort, Einführung, Zeitstrahl, Anhang, Anmerkungen
und Literaturverzeichnis in 13 Kapitel, zwei Exkurse und ein Fazit. 11 Kapitel
beschreiben die Entstehung des Islam mit dem Einfluss des Oströmischen Reiches,
die Geburt der Scharia aus dem Geist des Krieges, das islamische Schisma, die
Umayyaden an der Macht, den Streit der Gelehrten zu Glauben und Vernunft, die
Blütezeit des Islam "von Bagdad nach Córdoba" und das Ende der muslimischen
Zivilisation durch die mongolische Zerstörung Bagdads 1258. Die Kreuzzüge
(1095–1291) als "islamisches Europa-Trauma" und das Osmanische Reich
(1299–1922) als "europäisches Islam-Trauma" wie auch die Auswirkungen
des Kolonialismus auf den Islam und "die Geburt des Islamismus aus dem
Bauch der Niederlage" mit Salafismus, Panislamismus und islamischem Terrorismus
bilden weitere Kapitel.
Der Exkurs "Von Dehli bis Marrakesch" beleuchtet die Ausbreitung des
Islam in mehreren Phasen, die im Wesentlichen auf "politischen" (Byzanz
und Persien beerben), "wirtschaftlichen" (Dürren und Hungersnöte),
"theologischen" (Dschihad als religiöse Pflicht), "universellen"
(Erfüllung des Auftrags Gottes), "spirituellen" (Sufismus als Konterrevolution
gegen Dschihad und Scharia) und "kulturellen" (Befruchtung durch lokale
Bräuche) Gründen beruhte.
Der Exkurs "Der Sufismus oder die mystische Revolution" veranschaulicht eine wichtige Strömung des Islam mit spiritueller Orientierung und asketischen Tendenzen: "Wie die Philosophie der Versuch einer Revolution der Vernunft gegen die starren Dogmen des Islam war, so war der Sufismus der Versuch einer Revolution des Geistes." Hamed Abdel-Samad verneint die Frage, ob sich Sufismus als Alternative zum orthodoxen Islam eignet: "Die meisten heutigenSufi-Bewegungen lehren nicht Vernunft, Liebe und Unabhängigkeit, sondern unterstützen Patriarchat, Hierarchie, politische Passivität und magisches Denken und sind somit antiaufklärerisch".
Die
beiden letzten Kapitel des Buches "Die Aufklärung und der Islam"
und "Was bedeutet Aufklärung?" beleuchten die mögliche weitere Entwicklung
des Islam im positiven Sinn, aber auch als Gefahrenpotential für Europa und
die ganze Welt. Abdel-Samad erläutert die Grundlagen und Pfeiler der Aufklärung
als im 18. Jahrhundert einsetzende Entwicklung, durch rationales Denken alle
den Fortschritt behindernden Strukturen zu überwinden und benennt die dagegenstehenden
geistigen und psychologischen Mauern des Islam. Es sind vor allem Probleme mit
der Lesart der Geschichte, mit Mythologie, Philosophie und Wissenschaft und
mit der Unantastbarkeit des Koran und des Propheten, die einem aufgeklärten
Islam entgegenstehen. Weitere Problemfelder bilden das islamische Gottesbild
(Gottes Zorn und seine Strafen), Individualismus mit einem liberalen Begriff
von Freiheit und Autonomie des menschlichen Körpers und die Forderung nach
Meinungsfreiheit, verbunden mit einem freieren Verständnis von Staat und der
Gesellschaft. "Von Beginn an gab es im Islam immer zwei Lager: diejenigen,
die die Texte wortwörtlich interpretierten und diejenigen, die sie großzügiger
– vernunftbasierter – auslegten." "Orthodoxe Kräfte sorgten dafür,
dass der Koran über dem Wissen stand und die religiösen Gefühle über der
Vernunft."
Die Geschichte des Islam kennzeichnet Hamed Abdel-Samad mit zehn Hauptthesen
(hier einige schlagwortartig verkürzt):
Der Islam ist theologisch und zivilisatorisch ein Kind der alten Reiche Byzanz
und Persien.
Vier große Kämpfe präg(t)en seine Vergangenheit und Gegenwart: Kampf
gegen Byzanz, Kampf um Jerusalem, Kampf zwischen Sunniten und Schiiten, Kampf
zwischen Dogmen und Vernunft, zwischen Orthodoxen und Reformern.
Friedlicher Islam dominiert in Gebieten, die nicht mit dem Schwert islamisiert
wurden (Indonesien, Teile Afrikas), intolerantester Islam herrscht im Iran und
den Golfstaaten (z.B. Wahhabismus).
Der innerislamische Kulturkampf wird auch in Europa ausgetragen (politischer
versus liberaler Islam).
"Die Begegnung von Islam und Europa bleibt asymmetrisch, solange wir aus
falsch verstandener Toleranz zu Konfliktpotenzialen schweigen und orthodoxe
Kräfte das zu instrumentalisieren wissen."
"Wenn wir nicht entschieden entgegentreten, wird der Islam Europa mehr
verändern als Europa den Islam."
"Die islamische Welt muss sich für die Argumente der Kritiker des Islam
öffnen, die dies aus ehrlichen humanistischen Motiven und Interessen heraus
tun".
Dazu entwickelt Abdel-Samad einen Neun-Punkte-Plan (hier ebenfalls schlagwortartig
sehr verkürzt):
Entmachtung der religiösen
Institutionen und Beschränkung ihrer Aufgaben auf religiöse Agenden.
Zivile Angelegenheiten
wie Ehe, Scheidung, Erb- und Sorgerecht müssen vom Staat geregelt werden.
Reform der Bildung,
Förderung kritischen Denkens.
Gleichberechtigung
von Mann und Frau.
Religionskritik zulassen.
Faktenbasierte Lesart
der islamischen Geschichte.
Individuelle Freiheit,
Meinungsfreiheit und Demokratie gegen Fanatismus (statt despotisch harte Maßnahmen).
Abbau von Despotismus
und paternalistischer Autorität, die zur Infantilisierung der Gesellschaft
führen.
Ungeteilte Freiheit:
"Die andere Seite der Medaille der Glaubensfreiheit ist die Freiheit vom
Glauben."
"Wenn man über den Islam spricht, ist die erste Herausforderung die Integration der hier lebenden Muslime, wobei viele Menschen der Meinung sind, dass der Islam erst durch einen Prozess der Reform und Aufklärung gehen muss, um ein Teil von Europa zu werden. Gleichzeitig werden Reformer und Kritiker nicht nur in der arabischen Welt, sondern auch mitten in Europa nicht nur diffamiert und ausgeschlossen, sondern müssen sogar um ihr Leben fürchten."
"Islam. Eine kritische Geschichte" kann als Opus magnum des Autors
bezeichnet werden; es bietet einschlägig Interessierten – Einsteigern und
Fortgeschrittenen – neben breit gestreutem Wissen eine tiefschürfende, auch
sehr spannende, gut lesbare Auseinandersetzung mit dem Islam in seinen zahlreichen
Ausformungen, Aspekten und Gefahren. Die in jüngster Zeit immer dringlicher
und notwendiger gewordene Beschäftigung mit fundamentalistisch-radikalen Strömungen
(Islamismus, Salafismus, Dschihadismus) erfordert Kenntnisse und eine klare
Haltung, die last not least auch notwenig ist, um die weit überwiegende Mehrzahl
der in Europa lebenden friedlichen Muslime vor Diskriminierung zu schützen
und als gut integrierte, loyale Staatsbürger zu gewinnen. Mit klarer Benennung
der Probleme, aber auch Optimismus, bietet das Buch dazu wertvolle Anregungen,
es sollte von möglichst vielen Menschen – Nichtmuslimen und Muslimen –
gelesen und inhaltlich beherzigt werden.
"Es ist an der Zeit, mit dem Islam anders umzugehen, ihn weder als Feind
noch als Opfer zu betrachten. Es ist an der Zeit, Muslime ernst zu nehmen, statt
sie zu verteufeln, oder paternalistisch vor Kritik schützen zu wollen."
Hamed Abdel-Samad, Islam, Eine kritische Geschichte, dtv Verlagsgesellschaft,
München 2023, 317 Seiten, 24,00 Euro, ISBN 978-3-423-44663-1