Helmut Ortner am 17. MAI 2023 (gefunden und hier online gestellt am
20.5.)
Der aktuelle Report von Amnesty International zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe
der weltweiten Hinrichtungen dokumentiert für 2022 mindestens 883 Hinrichtungen
in 20 Ländern – die höchste Anzahl von gerichtlichen Hinrichtungen seit
2017.
Erhängen, Enthaupten, Giftinjektion oder Erschießen: mindestens 883 Menschen
in 20 Ländern wurden nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International
im Jahr 2022 auf diese Weise hingerichtet. 90 Prozent der weltweit registrierten
Hinrichtungen wurden von nur drei Ländern in der Region Naher Osten und Nordafrika
durchgeführt. Die Zahl der erfassten Hinrichtungen im Iran stieg von 314 in
2021 auf 576 in 2022. In Saudi-Arabien verdreifachte sich die Zahl von 65 in
2021 auf 196 in 2022, dort wurden an nur einem einzigen Tag 81 Menschen exekutiert.
In Ägypten wurden 24 Menschen hingerichtet.
Wie in den Jahren zuvor, fehlen in dieser Bilanz des Grauens die Angaben aus
China, Nordkorea und Vietnam, wo vermutliche tausende Todesurteile vollstreckt
wurden. Die Regierungen dieser drei Staaten halten Angaben zur Todesstrafe unter
Verschluss und behandeln sie als Staatsgeheimnis. Eine unabhängige und genaue
Überprüfung ist unmöglich. Doch Amnesty International geht davon aus, dass
in China nach wie vor weltweit die meisten Hinrichtungen stattfinden. Menschenrechts-Beobachter
gehen von Tausenden aus.
Todesstrafe für "Feindschaft zu Gott"
In zahlreichen Staaten wird die Todesstrafe als Instrument staatlicher Repression
gegen Minderheiten und Demonstrierende eingesetzt, etwa im Iran. Die UN geht
davon aus, dass in diesem Jahr bereits insgesamt mindestens 209 Menschen im
Iran hingerichtet wurden, unter anderem wegen vage formulierter Anklagepunkte
wie "Feindschaft zu Gott". Erst vor wenigen Tagen, am 8. Mai, waren
in einem Gefängnis in der Stadt Arak zwei Männer wegen "Beleidigung des
Propheten Mohammed und andere Blasphemien einschließlich der Verbrennung des
Koran" hingerichtet worden. Nach Angaben der US Commission on International
Religious Freedom waren die beiden Männer seit März 2020 in Haft. Unter welchen
Umständen das Geständnis zustande kam, ist nicht bekannt. Menschenrechtsorganisationen
kritisieren immer wieder, dass im Iran derartige Geständnisse durch Folter
oder andere Misshandlungen erzwungen werden.
Das Mullah-Regime will Härte demonstrieren, Menschen sollen eingeschüchtert
werden. Die Vertreter des Regimes klammern sich mit allen Mitteln an die Macht.
Dass ihnen das gelingt, liegt auch darin begründet, dass sie nach wie vor auf
ihre Gefolgschaft setzen können. In einer Erklärung hatten 227 der 290
iranischen Parlamentarier*innen die Justizbehörden aufgefordert, "keine
Nachsicht" mit den Demonstrierenden zu üben und dringend Todesurteile
gegen sie zu verhängen. So soll anderen eine "Lehre" erteilt werden.
Ein Sprecher der iranischen Justizbehörden forderte rasche Gerichtsverfahren
und Bestrafungen, einschließlich Hinrichtungen.
Julia Duchrow, stellvertretende Generalsekretärin von Amnesty International
in Deutschland, sagt: "Die iranische Führung ist für 65 Prozent der
weltweit bekannt gewordenen Hinrichtungen im vergangenen Jahr verantwortlich.
In dem Versuch, den Massenprotesten für "Frauen – Leben– Freiheit"
ein gewaltsames Ende zu setzen, hat die iranische Justiz bereits mindestens
vier Demonstrierende hinrichten lassen. Dutzende weitere Menschen sind im Zusammenhang
mit den Protesten akut von der Todesstrafe bedroht." Die aktuellen Entwicklungen
im Iran zeigen: notwendig und eindeutiger als bisher ist der internationale
Druck auf das Mullah-Regime.
Dass auch in Afghanistan, Kuwait, Myanmar, Palästina (Gazastreifen)
und Singapur nach Unterbrechungen wieder Todesurteile vollstreckt werden, ist
erschreckend. Auch in den USA stieg die Zahl der Hinrichtungen. Das Recht
des Staates, ein schweres Verbrechen mit der Hinrichtung des Täters zu sühnen,
gilt noch immer in zahlreichen Bundesstaaten der USA – auch im Jahr 2022.
Nach der Trump-Ära, der sich als Hardliner die Todesstrafe befürwortete und
auf Bundesebene ausweitete, stieg die Zahl der Hinrichtungen von elf im Vorjahr
auf 18 in 2022. Zwar ist die Todesstrafe in den USA auf dem Rückzug, doch in
zahlreichen Bundesstaaten, vor allem in Südstaaten wie Texas, wird trotz der
zunehmenden Schwierigkeiten, die nötigen Stoffe für die Giftspritze zu beschaffen,
weiter exekutiert.
Vor allem die Zahl der Menschen, die im Zusammenhang mit Drogendelikten exekutiert
wurden, hat sich 2022 im Vergleich zu 2021 mehr als verdoppelt. Hinrichtungen
wegen Drogenstraftaten sind ein Verstoß gegen internationales Recht, das
die Verhängung der Todesstrafe auf "schwerste Verbrechen" beschränkt
– das sind Verbrechen, die eine vorsätzliche Tötung beinhalten. Derartige
Hinrichtungen wurden in China, Iran (255), Saudi-Arabien (57) und Singapur (11)
verzeichnet. Auch in Vietnam gab es vermutlich Hinrichtungen wegen Betäubungsmittelstraftaten,
allerdings hält der Staat die entsprechenden Zahlen geheim. Die Hinrichtungen
machten einen Anteil von 37 Prozent aller von Amnesty erfassten Hinrichtungen
aus.
Ende der Todesstrafe gefordert
Doch es gibt in dieser globalen Schreckens-Bilanz auch positive Anzeichen.
Sechs Staaten schafften 2022 die Todesstrafe vollständig oder zum Teil ab.
In Kasachstan, Papua-Neuguinea, Sierra Leone sowie in der Zentralafrikanischen
Republik wurde die Todesstrafe für alle Straftaten aufgegeben, in Äquatorialguinea
und Sambia nur für gewöhnliche Verbrechen. Bis Jahresende 2022 hatten insgesamt
112 Länder die Todesstrafe für alle Straftaten aus ihrem Recht getilgt, hinzu
kommen weitere neun Länder, die sie nicht mehr für gewöhnliche Verbrechen
vorsehen.
Eine weitere positive Entwicklung gab es in Liberia und Ghana: Beide
Länder haben rechtliche Schritte zur Abschaffung der Todesstrafe eingeleitet.
Die Behörden von Sri Lanka und den Malediven gaben zudem bekannt, künftig
auf die Vollstreckung von Todesurteilen verzichten zu wollen. In Malaysia
haben beide Kammern des Parlaments Gesetzesentwürfen zur Abschaffung der
obligatorischen Todesstrafe zugestimmt.
Immer mehr Länder weltweit geben die Todesstrafe auf. Im Dezember 2022 unterstützte
bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine noch nie dagewesene Anzahl
von 125 UN-Mitgliedsstaaten eine Resolution, die die Einführung eines weltweiten
Hinrichtungsmoratoriums mit dem Ziel der vollständigen Abschaffung der Todesstrafe
fordert.
Julia Duchrow sagt: "Die Welt hat sich zweifellos auch 2022 weiter von
der Todesstrafe als Strafmittel entfernt. Die Länder, die weltweit für die
meisten Hinrichtungen verantwortlich sind – China, Iran, Saudi-Arabien,
Nordkorea und Vietnam – gehören mit ihrem brutalen Vorgehen jetzt eindeutig
zu einer isolierten Minderheit. Gerade hier stellen wir unsere Forderung nach
einem Ende der Todesstrafe besonders laut."
Buch-Empfehlung:
Helmut Ortner, Ohne Gnade – Eine Geschichte der Todesstrafe, Nomen Verlag,
230 Seiten, 22 Euro - https://www.nomen-verlag.de/produkt/ohne-gnade/