Am 30. Juni 2010 soll die deutsche Bundesversammlung einen neuen Bundespräsidenten
wählen. CDU, CSU und FDP haben in dieser Versammlung von Bundestagsabgeordneten
und Delegierten der Bundesländer eine gute Mehrheit. Daher war es eine Selbstverständlichkeit
für Frau Merkel, einen CDU-Kandidaten zu nominieren. Erwählt wurde Christian
Wulff, Jahrgang 1959, Ministerpräsident von Niedersachsen.
Alsbald meldeten sich zu diesem Kandidaten kritische Stimmen, die über das
Parteipolitische hinausgingen. Der Vorwurf an Wulff: er ist im Kuratorium eines
fundamentalistisch-evangelikalen Missionsvereins, "Pro Christ", siehe dazu
Näheres z.B.
zweimal auf Esowatch1 und Esowatch2,
in einem Artikel in der TAZ,
im EVO-Magazin,
sowie auf Redglobe im Artikel "Wulff
im Schafpelz" und in einem 3-sat-Video über "Pro Christ":
Der Kandidat von SPD und Grünen wäre als
Alternative zu Wulff gemeint: Joachim Gauck, der
seinerzeit das Stasi-Archiv abwickeln durfte ("Gauck-Behörde"). Dieser
Kandidat glänzt auch nicht als religiös neutral: er hat zwar keine Nähe zu biblischen
Fundis, aber als evangelischer Pastor ist auch er eindeutig positioniert.
In
Deutschland sind mehr als ein Drittel der Einwohner konfessionslos, Tendenz
steigend. Die Konservativen halten es deshalb vermutlich für gut, das christliche
Element forciert in die Öffentlichkeit zu bringen. Der deutsche Bundespräsident
ist zwar - ähnlich wie der österreichische - eigentlich nur ein Frühstücksdirektor,
ein Grüß-August. Aber man kann sicher sein: Ein Präsident, der so eng mit religiösem
Radikalismus verwoben ist wie Wulff, wird auch wenn er selber nicht direkt verkündend
auftritt, von seinen evangelikalen Freunden dafür benutzt werden.
In
Deutschland soll es ca. 1,3 Millionen Anhänger der Evangelikalen geben, was
allerdings eine Zahl aus der Eigenreklame ist, bei öffentlichen Veranstaltungen
versammelt man möglichst große Zuschauergruppen und agitiert gruppendynamisch.
Etwa mit lautem Geschrei "Liebst du Jesus?" - Ja ich liebe Jesus!"
und ähnlichen Banalitäten, die jedoch zumindest für den einfältigeren Teil der
Zuschauer Gefühle von Zugehörigkeit und Gemeinschaft herzustellen vermögen.
Bereits die
Wikipedia-Definition des Evangelikalismus als "theologische Richtung
innerhalb des Protestantismus, die sich auf die hohe Autorität oder Irrtumsfreiheit
der Bibel als zentrale Grundlage christlichen Glaubens beruft" genügt,
um ihn als sehr negative Erscheinung einschätzen zu können. Eine direkte und
wirkliche Gefahr für das aufgeklärte Europa sind diese Narren jedoch eher
nicht. Aber ihre ständigen Bemühungen, politische Verbindungen herzustellen
und dadurch an Einfluss zu gewinnen, müssen auf alle Fälle im Auge behalten
und vor allem öffentlich thematisiert zu werden.
In Österreich sind die Bemühungen
von Evangelikalen bisher weitgehend fruchtlos geblieben. Christlicher Fundamentalismus
befriedigt in unserem Land keine verbreiteten Bedürfnisse. So haben ein paar
Spinner z.B. vor einigen Jahren versucht, in Graz einen Stützpunkt der "Jesus
Revolution Army" zu gründen. Erfolglos. Ebenso fassten die "Jesus
People" nicht Fuß. Und da die evangelische Kirche in Österreich selber
sehr klein ist, finden hier auch die Evangelikalen nicht viel Platz zum Abgrasen.
Auf einer österr. evangelikalen Site sind in OÖ vier und in Wien neun evangelikale
Gemeinden verzeichnet, in NÖ acht, in der Steiermark fünf, keine davon hat irgendeine
wahrnehmbare Bedeutung.
In Deutschland sind rund dreißig Prozent der
Bevölkerung evangelisch. Ein deutscher Bundespräsident, welcher der extremistischen
Spielart des Protestantismus zugewandt ist, könnte jedoch diesem Flügel Auftrieb
verschaffen. Man wird wachsam sein und bei jeder Vermengung von Amt und
religiöser Ideologie deutlich reagieren müssen. Aber das braucht man wohl nicht
extra zu betonen.
Nachbemerkung: die Warner hatten recht, soviel
Christentum verträgt das Amt des Bundespräsidenten nicht, am 17.2.2012 trat
der Christ Wulff nach einer längeren Heuchlerphase zurück, siehe Info Nr.
707 und Info Nr. 754.