Auf science.orf.at wird unter stories/1665087 in einem Beitrag von
Charles Taylor, "Solidarität im pluralistischen Zeitalter", unter
dem Zwischentitel "Ethik mit verschiedenen Antriebskräften" zusammengefasst:
"An
dieser Stelle möchte ich stark dafür plädieren, die Bedeutung der Religion anzuerkennen.
Religion bietet eine breite und wirkmächtige Grundlage für Solidarität, und
laizistische Philosophen und Politiker, begehen einen großen Fehler, wenn sie
versuchen, Religion zu marginalisieren. In unseren Gesellschaften mit ihrer
ungeheuren Vielfalt sind es viele verschiedene Antriebskräfte, die uns auf eine
gemeinsame Ethik verpflichten, und wir können es uns nicht leisten, irgendeine
dieser Kräfte auszuklammern. Sie alle zusammen sind es, die unsere Gesellschaften
als lebendige, auf Gleichheit fußende, demokratische und solidarische Gesellschaften
in Gang halten.
Eine solche Sichtweise ist für Europäer, wie überhaupt für
den "Westen", nicht leicht nachvollziehbar. Historisch gründete die
politische Ethik konfessioneller Gesellschaften auf einem einzigen Fundament.
Im Falle Europas war dies der christliche Glaube. Verschiedene Arten von laizistischen
Gesellschaften haben versucht, sich aus den Ruinen des Christentums heraus neu
zu erfinden - und sind auf andere Weise in denselben Fehler verfallen.
So
verkündete der Jakobinismus, dass wir nur eine Philosophie haben dürften: Nicht
länger das Christentum, sondern die laizistische Philosophie der Aufklärung
sollte das allgemein anerkannte, unumstrittene gemeinsame Fundament sein. Das
ist der Versuch, eine Zivilreligion zu stiften, eine Idee, die von niemand Geringerem
als Jean Jacques Rousseau vorgeschlagen wurde. Eine solche Zivilreligion ist
heute nicht länger möglich. Wir können keine auf Gott zentrierte Zivilreligion
haben - das wäre ein Widerspruch in sich - und auch keine, die sich auf den
Laizismus, die Menschenrechte oder irgendeine Weltanschauung gründet. Wir bewegen
uns durch unbekanntes Gelände. Wir stehen vor einer in der Menschheitsgeschichte
einmaligen Herausforderung, nämlich eine starke politische Ethik der Solidarität
zu entwickeln, die bewusst auf sehr unterschiedlichen Anschauungen basiert.
Dies
kann nur gelingen, wenn wir uns intensiv miteinander austauschen, um wechselseitigen
Respekt für diese verschiedenen Anschauungen zu schaffen. Ich bin erschüttert
über eine sich auf dem Vormarsch befindende Islamophobie in unseren Gesellschaften,
die die höchst komplexe und mannigfaltige Geschichte des Islams auf ein paar
simple Schlagwörter reduziert. Ein solches Ausmaß an Dummheit - anders kann
man es nicht nennen - ist nicht nur ein Verbrechen gegen die Wahrheit, gegen
die Vernunft: Es ist auch ein Dolch, der auf das Herz unserer modernen demokratischen
Gesellschaften zielt.
Dies gilt indes für jedes abschätzige Bild des anderen.
Atheisten müssen mit Gläubigen sprechen und Gläubige mit Atheisten. Allein schon
deshalb, weil sie nur so den Gehalt ihrer eigenen Philosophie durchdringen werden.
Diese Art von Austausch ist entscheidend für die Verfassung der Gesellschaft,
von der ich spreche. Es ist eine Gesellschaft mit einer politischen Ethik, die
bewusst auf ganz unterschiedlichen Begründungen aufbaut; wir werden nur zusammenhalten,
wenn wir offen und aufrichtig und mit einem Sinn für Solidarität miteinander
sprechen.
Dazu sind wir, wie ich glaube, gezwungen. Es ist vielleicht nicht
das, was wir am liebsten täten - und wir haben es sicher bisher nicht getan.
Wenn wir aber ständig nur auf unsere christlichen Wurzeln zurückblicken, wird
es nicht gelingen. Wir können nicht allein aus diesen Wurzeln leben, sondern
nur aus unserer Anstrengung, diese Ethik und diese Solidarität aus all den verschiedenen
Wurzeln, die unsere heutigen Gesellschaften bereitstellen, neu zu schaffen.
Das ist die Herausforderung, vor der wir alle stehen."
Wir sind schon viel weiter gewesen! Der Säkularismus war in der Lage ganz
ohne Gottes und der Religionen Hilfe - ja in Wahrheit gegen sie! - den europäischen
Sozialstaat zu schaffen. Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen- und Rentenversicherungen
wurden nicht mit Gott, sondern von der Arbeiterbewegung mit der Idee des Sozialismus
geschaffen. Solidarität hatte in diesen Zeiten die Bedeutung, dass die unteren
Klassen solidarisch für ihre Interessen kämpften, um ihre Lage zu verbessern,
ihre politischen Anliegen durchzubringen. Heute hat "Solidarität"
vielfach nur noch die Bedeutung einer mildtätigen Barmherzigkeit, man wirft
was in des Bettlers Hut oder der Bill Gates spendet ein paar Milliarden für
Wohltätigkeiten.
Den Sozialstaat und die Errungenschaften der Arbeiterbewegung
gälte es zurzeit gegen den Neoliberalismus zu verteidigen. Aber das steht
seit dem Untergang des "Realsozialismus" nicht mehr auf der Tagesordnung.
Die alte Klassensolidarität wurde vom US-amerikanische Individualismus verdrängt, was
es den herrschenden Klassen überall erlaubt, ihre Klasseninteressen fast ohne
Widerstand durchzusetzen. Das Gegenmittel kann nicht ein mehr an Religion
sein, wir sollten froh darüber sein, dass Religion in Europa an Bedeutung
verliert, wir sollten nicht das Gespräch mit den Islamisten suchen, damit eine
ganz altgebliebene Religion in Europa ganz feste Positionen erlangt.
Dass der ORF auf der Science-Seite religiöse Propaganda betreibt, ist
nach der Leitungsumbesetzung keine Sensation. Über den Philosophen Charles
Taylor heißt es in Wikipedia: "Als praktizierender Katholik erhielt Taylor
1996 die Marianisten-Auszeichnung der (katholischen Privat-)University of Dayton. In
seiner Vorlesung zur Annahme des Preises vertritt er die Auffassung, dass in
säkularisierten westlichen Gesellschaften bestimmte christliche Werte stärker
verwirklicht seien als sie es in christlich dominierten Gesellschaften vor dem
Zeitalter der Aufklärung jemals waren. Als Beispiele nennt Taylor die Anerkennung
universell gültiger Menschenrechte und weitreichende Werke der Nächstenliebe
im Rahmen des Sozialstaates sowie durch internationale Hilfeleistung bei Naturkatastrophen
und humanitäres Einschreiten in Bürgerkriegen."
Diesen Religionspropagandisten,
der die Errungenschaften der Arbeiterbewegung zu christlichen Werken umetikettiert,
die von der katholischen Kirche heftig bekämpften Menschenrechte christianisiert,
nicht auf der Religionsseite, sondern auf der Wissenschaftsseite auftreten zu
lassen, das ist die Folge des schlimmen und völlig unentschuldbaren Handelns
der ORF-Führung!
PS: zur Übergabe der ORF-Wissenschaftsabteilung
an den Leiter der Religionsabteilung siehe Info Nr.
281 und Info Nr. 286.