Steht Religionsfreiheit über den Gesetzen?

Am 27. 7. 2012 forderten in Wien auf einer gemeinsamen Pressekonferenz Vertreter der Muslime, der Israeliten, der Katholiken und der Protestanten ein Ende der Debatte über die Beschneidung. Denn die Religionsfreiheit gewährleiste das Recht, männlichen Säuglingen die Vorhaut wegschneiden lassen zu dürfen und wer das kritisiert ist islamophob, antisemitisch, antireligiös, also so eine Art Feind von allem göttlich Wahren, Schönen und Guten. Justizministerin Beatrix Karl von der ÖVP verstieg sich in der Folge sogar zur Aussage, in Österreich sei rechtlich alles klar, die verfassungsmäßige Religionsfreiheit gewährleiste ein Recht auf Beschneidung.

Werfen wir aber einmal einen Blick ins Staatsgrundgesetz von 1867.
Dort heißt es im Artikel 14 über die Religionsfreiheit:

Die volle Glaubens- und Gewissensfreiheit ist jedermann gewährleistet. Der Genuss der bürgerlichen und politischen Rechte ist von dem Religionsbekenntnisse unabhängig; doch darf den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen. Niemand kann zu einer kirchlichen Handlung oder zur Teilnahme an einer kirchlichen Feierlichkeit gezwungen werden, in sofern er nicht der nach dem Gesetze hiezu berechtigten Gewalt eines Anderen untersteht.

Der schöne Satzteil "doch darf den staatsbürgerlichen Pflichten durch das Religionsbekenntnis kein Abbruch geschehen" belegt eindeutig: die Religionsfreiheit erlaubt keineswegs, beliebige Kulte auszuüben, Islamisten dürfen keine Ehebrecherinnen steinigen, die israelische Glaubensgemeinschaft kann niemanden, der am Sabbat arbeitet, den früher üblichen Strafen zuführen, Hindus dürfen keine Witwen verbrennen und die katholische Kirche darf Helmut Schüller und seine Pfarrerinitiative nicht wegen Ketzerei auf den Scheiterhaufen stellen. Denn es gelten in Österreich für alle Anhänger aller Religionen die staatsbürgerlichen Pflichten.

Zum Beispiel der § 83 des Strafgesetzbuches: Körperverletzung
(1) Wer einen anderen am Körper verletzt oder an der Gesundheit schädigt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
(2) Ebenso ist zu bestrafen, wer einen anderen am Körper misshandelt und dadurch fahrlässig verletzt oder an der Gesundheit schädigt.
In der Charta der Grundrechte der Europäischen Union heißt es im Artikel 3 zudem: "Jede Person hat das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit."

Alles klar? § 83 und Grundrechtsartikel 3 werden ganz bestimmt nicht von der Religionsfreiheit außer Kraft gesetzt! Soviel Hirn, um das zu erkennen, müsste eigentlich sogar einer ÖVP-Ministerin zuzumuten sein. Die Frage liegt nicht dort, ob die Religionsfreiheit das Strafgesetzbuch und EU-Grundrechte außer Kraft setzt, das ist völlig klar, die Religionsfreiheit setzt das Strafgesetzbuch und EU-Grundrechte nicht außer Kraft.

Die richtige Frage lautet, ob die Beschneidung eine Körperverletzung ist, da die Beschneidung heutzutage medizinisch meist nicht einmal bei Vorhautverengung notwendig wäre, weil man solche Engstellen jetzt häufig schon ohne Vorhautentfernung behandeln kann.

Somit gilt: ist es eine Körperverletzung, wenn aus religiösen Gründen Eltern ihren männlichen Kindern sofort nach der Geburt oder im Kindesalter ohne deren Einsichtsfähigkeit und Einwilligung ein wichtiges Körperorgan verstümmeln lassen?

Um das geht es und um sonst gar nichts. Und das ist wissenschaftlich und rechtlich zu klären. Weil Kleinkinder haben ein Recht auf die Unversehrtheit ihres Körpers, ein Recht, das vernünftigerweise höher bewertet werden muss, als die religiösen Anschauungen der Eltern.
In den letzten Wochen waren Massen von Argumenten gegen eine solche Penisverstümmelung in allen möglichen Medien zu finden, die Argumente für die Vorhautamputation beschränkten sich darauf: das wurde immer so gemacht, das steht in der Thora, das steht in Texten der islamischen Tradition. Und diese Umstände sollen das Strafgesetzbuch und Menschenrechte von Kleinkindern aushebeln können? Wo leben wir? Im Altertum? Im Mittelalter? Oder im 21. Jahrhundert?

Der Vergleich macht sicher:
Für die Beschneidung:

Mose 1, 17
Die Beschneidung im Islam
Gegen die Beschneidung:
Presseaussendung zur rituellen Beschneidung
Kinderhilfe: Petition zur Beschneidung
Terre des Femmes gegen Beschneidungen
Medizinisches zur Beschneidung
Stellungnahme der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin
FAZ: Offener Brief zur Beschneidung
FAZ: Jüdischer Arzt äußert seine Bedenken
Jews Against Circumcision (Juden gegen Beschneidung)